Ein Vergleich der Mehrwertsteuer-Struktur in der Eurozone von Winfried Wolf
Vorab aus Lunapark21 – zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie, Heft 30 (Juli 2015).
Download als PDF
Neben der Forderung nach einer „Rentenreform“ in Griechenland spielte in den letzten Wochen die Forderung nach einer „Vereinfachung der Mehrwertsteuer“ in diesem Land eine wichtige Rolle. Bei beiden Themen gibt es die übliche doppelte Tarnung: Einerseits treten die tatsächlichen politischen Akteure – Lagarde, Draghi und Merkel-Schäuble – in den Hintergrund; sie schicken sogenannte technische Teams an die Front. Wobei auch die Eurozonen-Finanzminister sich als solche „Handwerker“ geben. Auf der anderen Seite wird das Bild vermittelt, es gehe um „Transparenz“ und um sinnvolle – objektiv notwendige –, „Reformen“.
Das ist eine satte Lüge. In Wirklichkeit geht es um Politik; und um einen Raubzug. Hier findet ein neuer Zangenangriff auf den verbliebenen Binnenmarkt Griechenlands und auf das Ansehen der von SYRIZA angeführten Regierung statt. Die Umsetzung der beiden Forderungen Rentenkürzungen und Mehrwertsteuererhöhungen entzieht zunächst dem Binnenmarkt nochmals eine Nachfrage in Höhe von rund 4 Milliarden Euro im Jahr. Die Wirtschaftskraft des Landes muss unter solchen Bedingungen noch weiter erodieren und damit zugleich die Schuldenquote steigen. Gleichzeitig wird der Verarmungsprozess im Land beschleunigt, da Millionen Menschen noch weniger verdienen und die Bevölkerung noch mehr für den Lebensunterhalt bezahlen muss (oder für ihre realen Einkommen noch weniger als bisher bekommt).
Im Folgenden soll die Demagogie, mit der der Internationale Währungsfonds, die EU bzw. die Europäische Zentralbank und die Berliner Regierung agieren, am Beispiel der Mehrwertsteuer verdeutlicht werden. Dazu fünf Konkretisierungen:
Standardformulierung: Vereinheitlichung und Vereinfachung Es gibt kaum ein Gebiet in der EU, auf dem ein größeres Chaos herrscht als bei der Mehrwertsteuer. Die EU selbst veröffentlicht Jahr um Jahr eine Broschüre, die in der aktuellen Fassung 28 Seiten umfasst und die in mehreren Tabellen mit mehr als 60 Fußnoten buchstäbliche hunderte unterschiedliche Mehrwertsteuersätze mit noch mehr Ausnahme- und Sonderreglungen dokumentiert. Dass Großbritannien z.B. Nullprozent Umsatzsteuer auf das Drucken von Banknoten erhebt, ist da dann bereits wieder originell und passt ins Bild, das von Großbritannien als der Finanzoase schlechthin existiert. Es gab seitens der EU auch nie ernsthaft den Versuch, eine einheitliche oder zunehmend einheitliche Umsatz- bzw. Mehrwertsteuer in der EU zu erreichen. Es ist also absurd, ausgerechnet von Griechenland und ausgerechnet jetzt eine „Vereinfachung“ dieser Steuer zu verlangen.
Charakter der Mehrwertsteuer als Verstärkung der Ungleichheit Grundsätzlich verstärkt eine Verbrauchssteuer – also eine einheitliche Steuer auf alle Waren und Dienstleistungen – die bestehende Ungleichheit. Sie trifft die Armen in absoluten Beträgen gleich wie die Reichen – und damit relativ viel stärker. Hohe Mehrwertsteuersätze sind damit ein Beitrag zur Verstärkung der Ungleichheit. Wer dann noch in der Krise und im speziellen Fall mitten in der griechischen Krise diese Steuer erhöht, der betreibt in aggressiver Weise den Prozess der Verarmung der Mehrheit und der Begünstigung der Reichen und Superreichen. Ganz besonders perfide ist die Forderung von IWF, EU/EZB und Berliner Regierung, nur noch Grundnahrungsmittel mit dem mittleren, ermäßigten Steuersatz von 13 Prozent zu belasten; bei den übrigen Lebensmittel jedoch den Top-Mehrwertsteuersatz von 23 Prozent zur Anwendung zu bringen. Damit würde man schlagartig den Hunger im Land vergrößern. Unsere Tabelle zeigt: Im reichen Deutschland werden alle Nahrungsmittel nur mit dem 7-Prozent-Mehrwertsteuersatz belastet. Das ist weniger als ein Drittel dessen, was den Griechinnen und Griechen bei den Nahrungsmittel, die nicht als „Grundnahrungsmittel“ deklariert werden, auferlegt werden soll.
Erhebliches EU-Gefälle
Es existiert in der Eurozone bereits ein erhebliches Gefälle bei dieser Steuer. Ausgerechnet die beiden reichsten Länder, Luxemburg und Deutschland, haben die relativ niedrigsten Sätze. Die ärmeren Länder haben in der Regel deutlich höhere. Die höchsten haben die drei Länder Irland, Portugal und Griechenland; diejenigen, in denen die Troika wütete. Siehe die Tabelle mit den ersten Zeilen und die Säulen-Grafik. Wobei in der Peripherie in den letzten Jahren die Mehrwertsteuersätze besonders massiv angehoben wurden. Griechenland z.B. hatte 2005 einen Normalsatz von 19 Prozent (mit ermäßigten Sätzen von 9 und 4,5 %). Heute liegt der Normalsatz bei 23 Prozent (und die ermäßigten Sätze bei 13 und 6,5 %).
Spezifische Gläubiger-Forderungen
Es ist generell ein Skandal, dass die Gläubiger bis ins Detail diktieren wollen, was in einem von der Troika beherrschten Land beim Steuersystem wie zu ändern, in welchen Bereichen genau die Mehrwertsteuer anzuheben ist. Dieser Vorgang ist dann aber auch wieder interessant – und entlarvend. Eine Forderung der Gläubiger lautet: In den Bereichen Restaurants/Bewirtung und Hotel (Übernachtungen) müsste der Mehrwertsteuersatz „vereinheitlicht“ und auf 23 Prozent angehoben werden. Er läge dann z.B. bei den Hotels bei mehr als dem Doppelten dessen, was in den anderen Tourismus-Ländern Portugal, Spanien und Italien an den Fiskus abzuführen ist. (Kein Wunder, wenn die Regierungen in Lissabon, Madrid und Rom sich so engagiert am Hellas-Bashing beteiligen!). Der griechische Mehrwertsteuersatz für die Hotelerie läge damit aber auch mehr als drei Mal höher als der Satz in Deutschland (siehe Tabelle). Es war die erste, rein bürgerliche Regierung mit Kanzlerin Angela Merkel, die im Jahr 2009 in Deutschland den Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen von 19 auf 7 Prozent senkte. Dies wurde in allen deutschen Medien als „Steuergeschenk für die Hotel-Branche“ und als besonderes Dankeschön der Hotellerie-Klientel an die Liberalen (FDP) verstanden (hier zitiert nach: Wirtschaftswoche vom 19. Januar 2010). Soviel zum Thema „Klientelismus“!
Die Inseln und die Mehrwertsteuer
Es sei nicht einzusehen, so die Gläubiger, warum es auf den meisten griechischen Inseln weiterhin deutlich geringere Mehrwertsteuersätzen geben soll. Auch hier gehe es um „Vereinheitlichung“. Tatsache ist: Es ist rein sachlich sehr wohl nachvollziehbar, dass für Inseln eine steuerliche Entlastung sinnvoll ist, um die deutlich höheren Kosten für die Personen- und Warentransporte – oft auch für Wassertransporte und für fast alle Energiezulieferungen – auszugleichen. Die Forderung, diese niedrigeren Mehrwertsteuersätze auf den griechischen Inseln zu streichen, ist besonders frech, weil überall dort in der Eurozone, wo es vergleichbare „Insel-Strukturen“ gibt, solche deutlich niedrigeren Umsatzsteuersätze gelten: das ist so im Fall der französischen Insel Korsika und den „Überseegebieten“ Frankreichs, das ist so im Fall der portugiesischen Inseln Azoren und Madeira. Besonders krass ist es im Fall der zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln. Dazu heißt es in der Broschüre zu den Mehrwertsteuersätze in der EU gar: „Die Kanarischen Inseln und Ceuta und Melilla gelten mehrwertsteuerlich nicht als Inland“. Damit entfällt eine solche Steuer hier ganz – was für die spanische Tourismusbranche in dieser Region einen erheblichen Standortvorteil darstellt.
Bilanz: Die Mehrwertsteuer-Forderungen für Griechenland sind Teil des gesamten Diktats, das die Institutionen Griechenland aufzwingen wollen. Damit wird der Austeritätskurs, der seit 2010 betrieben wird, verschärft, die Krise vertieft und die Armut gesteigert. Die entsprechenden Forderungen sind zugleich direkt von Interessen geleitet: Sie schaden dem wichtigsten Bereich, mit dem Griechenland Einnahmen aus anderen EU-Staaten und aus dem übrigen Ausland erzielen und damit sonstige Defizite teilweise ausgleichen kann, der Tourismus-Branche. Gleichzeitig entsprechen diese Forderungen den Interessen anderer Länder mit großem Tourismus-Sektor.