von Winfried Wolf

Urplötzlich verschwand das Thema Griechenland aus Schlagzeilen und Talkrunden. Nun hat die deutsche Kanzlerin selbst die Umorientierung des öffentlichen Interesses wie folgt erklärt: „Das Flüchtlingsthema wird uns weit mehr beschäftigen als Griechenland“. Doch selbst das Flüchtlingsthema ist eng mit Griechenland verbunden. Die Mehrheit der Menschen, die nach Europa fliehen, gelangt inzwischen über die Türkei, die Ägäis und Griechenland nach Europa und nicht mehr über Nordafrika und Italien.

Vor allem aber setzt sich das Drama in Griechenland fort. Die Binnennachfrage wird mit dem neuen, dem dritten Memorandum nochmals reduziert: durch Rentenkürzungen und Mehrwertsteuererhöhung. Einzelne Sektoren der produktiven Wirtschaft werden gezielt geschädigt – so die Landwirtschaft mit der Streichung der Subventionierung von Dieselkraftstoff und der Tourismus mit der Streichung der reduzierten Mehrwertsteuersätze auf den Inseln. Mit der aufgezwungenen Einrichtung eines Privatisierungsfonds wird der Ausverkauf des Landes – zu Schleuderpreisen, versteht sich – effizient organisiert. Wobei nicht zufällig als erstes die deutsche staatliche Flughafen-Betreibergesellschaft Fraport ein fettes Geschäft machte und die profitabelsten griechischen Regionalflughäfen ins Portfolio nahm.

Es wird – anders als von Alexis Tsipras dargestellt – keine zusätzlichen Investitionen geben. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. August heißt es unzweideutig: „Von neuem Geld aus EU-Töpfen kann keine Rede sein“. Vor allem aber erhöht sich die Verschuldung des Landes schlagartig um weitere 90 Milliarden Euro. Gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt werden die öffentlichen Schulden dann bei mehr als 200 Prozent liegen, also doppelt so hoch wie das griechische Bruttoinlandsprodukt sein. Selbst Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds, dessen Existenzzweck das professionelle Ausquetschen von Ländern und Bevölkerungen im Interesse des Finanzkapitals ist, erklärt: „Griechenlands Schulden sind nicht mehr tragfähig“. Das heißt: Die griechischen Schulden können nie und nimmer zurückbezahlt werden. Sie werden jedoch immer wieder aufs Neue ein Hebel sein, um Griechenland im Zustand eines Protektorats von EU und Gläubiger-Mafia zu halten.

All diese katastrophalen Grunddaten der griechischen Gesellschaft werden in den Medien der EU-Metropolen nicht mehr kommuniziert. Plötzlich gilt das Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Selbst die am 20. September abgehaltenen Neuwahlen waren in Brüssel, Madrid, Rom und Berlin nicht wirklich ein Aufreger. Es galt die Formel Henry Fords: „Sie können jede Farbe Ihres Autos wählen, wenn sie nur schwarz ist.“ Was im Fall Griechenland hieß: Egal, wie die Wahlen ausgingen, es war von vornherein klar: Die reale Politik im Land wird inzwischen in Brüssel und Berlin diktiert. Am Ende waren die Wahlsieger vom 25. Januar 2015 die Wahlsieger vom 20. September 2015. Ihr Name: Alexis Tsipras und Syriza. Doch der Unterschied zwischen beiden Wahlergebnissen, zwischen Tsipras und Syrizas aus dem ersten Halbjahr 2015 und Tsipras und SYRIZA aus dem zweiten Halbjahr 2015 – ist erheblich. Bereits rein quantitativ gibt es deutliche Unterschiede: Die Wahlbeteiligung sank massiv, sie liegt bei lediglich 56 Prozent. Syriza verlor im Vergleich zur Wahl Ende Januar 2015 mehr als 320.000 Stimmen (bei den Stimmanteilen war es ein Prozentpunkt). Insbesondere unter jungen Menschen und in den städtischen, politischen Zentren erreichte die Wahlenthaltung Rekordwerte.[1]

Der entscheidende Unterschied liegt allerdings auf der qualitativen Ebene. Syriza und Tsipras standen im ersten Halbjahr 2015 für eine Politik der strikten Ablehnung der Memoranden, die die EU und die Berliner Regierung dem Land aufgezwungen hatte. Dafür hatten sie im Referendum vom 5. Juli bis zu zwei Drittel der griechischen Bevölkerung mobilisiert.[2] Heute stehen Tsipras und Syriza nicht nur für die Akzeptanz der neoliberalen Politik nach Vorgabe des dritten Memorandums. Sie sind nach der Wahl vom 20. September auch diejenigen, die diese Politik umsetzen und gegenüber den Protesten in der Bevölkerung bzw. die Betroffenen durchsetzen müssen.

Was also erklärt das beschriebene neue demonstrative Desinteresse der in der EU herrschenden Kreise am Thema Griechenland? Nun, Zuchtmeister Schäuble („Ich bin hochzufrieden“) und die übrigen Herren des Euro sind der Auffassung, dass das Beispiel Griechenland für sich spricht. Tatsächlich haben die Herren des Euro ihre drei zentralen Ziele erreicht:

Erstens wurde mit dem griechischen Exempel Austerität als Leitmotiv jeder Wirtschaftspolitik in der EU verteidigt – anschaulich untermalt von den Tränen Hunderttausender griechischer Rentner, von dem Schweiß Millionen griechischer Malocher und der Wut Zehntausender griechischer Bauern.

Zweitens wurde den amtierenden Regierungen in der Peripherie verdeutlicht, wo der Hammer hängt. Wobei aus Berliner Sicht bereits Paris an die Peripherie gerückt ist. Das gilt auch für die Anwärter auf ein zukünftiges Mitregieren, also beispielsweise für Senor Iglesias von Podemos in Spanien. Die Botschaft lautet: Diejenigen, die aufbegehren, werden am Ende besonders tief in den Dreck gedrückt.

Drittens wurde in Athen gezielt eine authentische Linke gedemütigt und dezimiert. Damit soll demonstriert werden, dass sich insbesondere eine solidarische Alternative zu Austerität und Ellbogen-Kapitalismus als Sackgasse erweisen würde.

Insofern dürfte die nach außen zur Schau gestellte Haltung von Alexis Tsipras, der griechischen Bevölkerung zu erklären, man habe sich lediglich der Erpressung gebeugt und einem Memorandum zugestimmt, an dessen Wirksamkeit man selbst nicht glaube, auf Dauer nicht überzeugen. Es geht ja nicht um „ein Mal Sünde, Beichte und dann ist gut“. Seit der Wahl vom 20. September 2015 können Syriza-Minister an der Regierung linke Positionen nur noch in Feiertagsreden vortragen. Werktags aber werden sie Punkt für Punkt – also Gesetz für Gesetz und Polizeieinsatz für Polizeieinsatz – ein Memorandum umzusetzen haben, das den Ausverkauf des Landes konkretisiert und die soziale Spaltung der Gesellschaft verschärft. Etwas in der Praxis zu tun, an das man nicht glaubt, heißt im Grunde: unglaubwürdig sein.

Diejenigen, die sich solidarisch mit dem Aufbruch in Griechenland zeigten, sollten nach der Niederlage genau diese Politik des Desinteresses nicht kopieren. Die Solidarität mit der griechischen Bevölkerung darf keine Modeerscheinung sein. Sie muss auch in den nun auf uns zukommenden Schlechtwetterzeiten anhalten.

Und: Wir haben das eine und andere gelernt: Demokratie ist das Gegenteil von Eurokratie. Das Modell der Einheitswährung ist logisch verbunden mit einer Missachtung demokratischer Entscheidungen. Es ist möglich, eine große Mehrheit der Bevölkerung für ein mutiges, solidarisches Projekt zu gewinnen. Dass das Ochi vom 5. Juli nicht in Taten umgesetzt wurde – oder nicht umgesetzt werden konnte – ist tragisch. Dafür gibt es jedoch Verantwortliche. Die Kapitulation war nicht naturnotwendig. Syriza bzw. die Mehrheit der Führung von Syriza erwies sich als unfähig und nicht willens, den mehrheitlichen Protest der griechischen Bevölkerung aufzugreifen und in eine konkrete Politik – auch in einen Plan B – umzusetzen.

Wir sollten alles tun, damit möglichst viele der Menschen, die in Griechenland und europaweit den Aufbruch von Syriza mit Optimismus und Begeisterung begleiteten, sich nicht aus den solidarischen Engagements zurückziehen. Wir werden dann, wenn sich als Folge der Krise in Europa ein neues Fenster öffnet, auf diesen Erfahrungen und diesem Engagement aufbauen.


Bei dem hier wiedergegebenen Beitrag handelt es sich um die aktualisierte Fassung eines Leitartikels, den Winfried Wolf für Nr. 5 von Faktencheck:HELLAS schrieb.

Winfried Wolf ist Chefredakeur von Lunapark21; er trug wesentlich zum Entstehen von Faktencheck:HELLAS bei, einer Massezeitung, die von April bis September 2015 mit fünf Ausgaben und (addiert) 250.000 gedruckten Exemplaren erschien.

[1] Eine detaillierte Wahlanalyse verfasste Andreas Karitzis für die Rosa Luxemburg Stiftung (datiert auf den 25. September 2015).

[2] Zu den 61,3 Prozent, die beim Referendum mit „Nein“ zu den EU-Memoranden gestimmt hatten, müssen die Stimmen der Kommunistischen Partei (KKE) hinzugezählt werden, die ungültig gestimmt hatten, aber ebenfalls dem Nein-Lager zuzurechnen sind.