Solidarität mit der Opposition gegen Erdoğans Diktatur
von Susanne Rohland

Die Nachrichtenlage aus der Türkei nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli ist düster. Mit der Verhaftung von Politikerinnen und Politikern der pro-kurdischen HDP in der Nacht zum 4. November ist eine neue Eskalationsstufe erreicht. Zuvor schon waren mehr als 80.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen worden, mehr als 170 Medien und Verlagshäuser wurden geschlossen, 130 Journalistinnen und Journalisten sitzen im Gefängnis. Insgesamt wurden in der Folge des Putsches mehr als 80.000 Menschen verhaftet – die Hälfte davon befindet sich heute noch hinter Gittern. Kriminelle wurden entlassen, um Platz zu schaffen. Neue Gefängnisse werden gebaut.
Zunächst richteten sich die Maßnahmen weitgehend gegen tatsächliche oder vermeintliche Anhänger des Islampredigers Fethullah Gülen, dem die Verantwortung für den Putschversuch zugeschoben wird. Noch Mitte August kam ein Wissenschaftler, der als „Gülen-Anhänger“ verhaftet wurde, frei: Er sei bekanntlich Marxist und Atheist und könne folglich kein Anhänger eines Islam-Predigers sein. Kaum zwei Wochen später traf eine der Entlassungswellen aus dem öffentlichen Dienst auch Dutzende Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des „Appells der Akademiker*innen für den Frieden“ vom Januar 2016. Inzwischen sind 68 von ihnen betroffen. Insgesamt sind knapp 4.000 Akademikerinnen und Akademiker in der Folge des Putsches entlassen worden. Dauerhaft – eine erneute Anstellung im öffentlichen Dienst ist auf Lebenszeit ausgeschlossen. Da es sich um Dekrete unter Notstandsgesetzgebung handelt, ist gegen die Entscheidung, die einem lebenslangen Berufsverbot gleichkommt, kein Einspruch möglich.
Bei der Entlassung von 11.285 Lehrkräften am 8. September wegen angeblicher PKK-Unterstützung kann von einem auch nur möglichen Zusammenhang mit dem Putschversuch nicht mehr die Rede sein. Vielmehr wird der Ausnahmezustand zur weiträumigen Ausschaltung jedweder Opposition genutzt. Dazu gehört neben der kompletten Schließung aller kurdischen und alewitischen Medien auch die Absetzung von 70 gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in den kurdischen Gebieten. 30 von ihnen sitzen im Gefängnis.
Bereits vor Jahren soll Erdoğan erklärt haben, er halte Demokratie für ein Vehikel, das man verlassen könne, wenn es Zeit ist. Im letztem Sommer war es soweit, als die HDP mit ihrem Wahlerfolg die Alleinregierung von Erdoğans AKP verhinderte. Erdoğan erkannte das Wahlergebnis nicht an, ließ alle Koalitionsverhandlungen platzen, setzte Neuwahlen an – und eröffnete den Krieg gegen die Kurden neu. Wochen-, teils monatelange Ausgangssperren rund um die Uhr in kurdischen Gebieten waren begleitet von Militäroperationen, die ganze Ortschaften dem Erdboden gleichmachten und hunderte Menschenleben forderten. Drei Wochen vor dem Neuwahltermin vom 1. November 2015 detonierten zwei Bomben auf einer Friedenskundgebung in Ankara. Die beiden Selbstmordattentäter rissen 100 Menschen mit in den Tod. Die Neuwahl verlief zu Erdoğans Gunsten: Zwar nahm die HDP erneut die 10-Prozent-Hürde und verblieb – wenn auch mit Verlusten – im Parlament. Doch die AKP erhielt die parlamentarische Mehrheit zurück und kann wieder allein regieren.

„Angst kann ansteckend sein. Aber Mut mindestens genauso.“
Selahattin Demirtaş, Ko-Vorsitzender der HDP

Der Kriegskurs gegen die Kurden wurde unvermindert fortgesetzt. Jedwede Solidarität wird als „terroristische Propaganda“ erbittert kriminalisiert. Im Mai beschloss das Parlament die Aufhebung der Immunität derjenigen Abgeordneten, gegen die Strafanzeigen vorliegen. Betroffen sind, neben einigen Abgeordneten von CHP, MHP und sogar der AKP, fast alle 59 Abgeordneten der HDP-Fraktion. Es folgten polizeiliche Anhörungen, bei denen die Vertreterinnen und Vertreter der HDP statt der Beantwortung der Fragen eine gemeinsame Erklärung verlasen: Dass sie sich weigern, Statisten in einem von Erdoğan einberufenen Justiztheater zu spielen, und dass nur die Menschen, die sie ins Parlament gewählt haben, das Recht haben, ihre Aktionen in Frage zu stellen.
Die jüngsten Verhaftungen kamen nicht überraschend. Erst am 2. November, einen Tag nach der Verhängung einer Ausreisesperre für Figen Yüksekdağ, die Ko-Vorsitzende der HDP, bestätigte ein Gericht eine 10-monatige Haftstrafe gegen sie. 103 Verfahren sind gegen Selahattin Demirtaş, den Ko-Vorsitzenden der HDP anhängig. Es gab weitere Vorladungen, die HDP-Leute hatten sich geweigert, zu diesen Anhörungen zu erscheinen. Deshalb die polizeiliche Abholung nach Mitternacht.
Während kurdische Gebiete unter Beschuss standen, wurde Erdoğan im September 2015 nach Brüssel eingeladen, um den berüchtigten EU-Türkei-Deal in der Flüchtlingsfrage zu verabreden. Mit der Einladung des Präsidenten der Türkei, der formal nicht viel mehr Zuständigkeiten hat als Gauck bei uns – Gespräche mit dem formal zuständigen damaligen Premierministers Davutoğlu fanden erst später statt – hat die EU Erdoğans Präsidialdiktatur de facto akzeptiert. Menschenrechtsverletzungen waren in Brüssel kein Thema. Zwischen dem Anschlag in Ankara am 10. Oktober 2015 und dem Neuwahltermin am 1. November brach Kanzlerin Merkel zu einem Besuch nach Istanbul auf. Die Fotos vom freundlichen Händeschütteln wurden in der Türkei von allen als direkte Wahlkampfhilfe gesehen. Jüngst gab es Berichte über gestiegene Kleinwaffenexporte aus Deutschland in die Türkei. Nun macht dieser Tage auf sozialen Medien ein Video die Runde, auf dem zu sehen ist, wie zwei PKK-Kämpferinnen im Südosten der Türkei nach ihrer Gefangennahme von türkischen Militärs exekutiert werden – mit deutschen Gewehren, wie selbst „Bild“ feststellt.
Die politische Führung der EU hat Erdoğan mit dem Kungeln in der Flüchtlingsfrage wieder salonfähig gemacht. Er sitzt nun fester im Sattel als noch vor einem Jahr. Alle anderen dagegen, allen voran unsere Verbündeten im Kampf um eine bessere Welt, können sich in der Türkei kaum noch sicher fühlen. Dass Solidarität unsere dringende Aufgabe ist, liegt auf der Hand. Es reicht aber nicht, in sicherer Entfernung über die Auswüchse eines Despoten zu wettern und die hilflose Besorgnis unserer Volksvertreter anzuprangern. Ein türkischer Kollege hat es so formuliert: „Jeder und jede muss Widerstand im eigenen Land organisieren. Das ist Solidarität!“
Susanne Rohland ist aktiv für LabourNet Germany