von Sebastian Gerhardt in: FaktenCheck:HELLAS, Ausgabe 4, Juli 2015

Nach Abschluss der Verhandlungen des Eurogipfels am Morgen des 12. Juli erklärte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras, nun könnte Griechenland „wieder auf eigenen Füßen stehen“. Trotz der negativen Wirkungen der Einigung mit den Gläubigern werde die finanzielle Stabilität Griechenland neue wirtschaftliche Aussichten eröffnen. Nun müssten die Lasten der Austeritätspolitik sozial gerecht verteilt werden. Der „Grexit“ sei eine Sache der Vergangenheit.

Tatsächlich hatte die griechische Bevölkerung mit dem „Nein“ im Referendum vom 5. Juli der Regierung keinen Blankoscheck zum Euro-Austritt erteilt. Die Propaganda aus Berlin und Brüssel stellte das Referendum als eine Entscheidung für oder gegen den Euro dar. Die Hoffnung war, dass sich die Griechen wie einst die Bürger der DDR im Jahr 1990 nicht gegen das „Westgeld“ entscheiden würden. SYRIZA gelang es, mit der Anknüpfung an die Protestkultur und dem Versprechen auf eine Verhandlungslösung das „Nein“ zum Erfolg zu bringen. Nun liegt das Verhandlungsergebnis vor. Wenn damit tatsächlich die Zeit der ständigen Debatten über den Verbleib Griechenlands im Euroraum vorbei ist, bleibt doch die Frage: Welche Perspektive hat die griechische Wirtschaft in diesem Rahmen? Dabei geht es um Fakten, nicht um Glauben und Spekulationen.

Völlig unabhängig von den einzelnen Punkten des Austeritätsprogramms wird eine Stabilisierung des griechischen Finanzsystems zweifellos positive Folgen haben. Allein seit November 2014 haben griechische Sparer und Unternehmen mindestens 40 Milliarden Euro von ihren Bankkonten abgehoben und „unter der Matratze“ oder ins Ausland geschafft. Fließt nur ein Teil dieser Mittel in die griechischen Banken zurück, so wirkt schon das wie ein Konjunkturprogramm. Wenn darüber hinaus die Schuldenzahlungen des griechischen Staates mit einem neuen Memorandum aufgefangen werden, dann könnte der brutale Rückgang öffentlicher Ausgaben im letzten Vierteljahr, entstanden durch ein Zusammenkratzen aller Reserven um den Schuldendienst zu leisten, beendet werden. Vielleicht gibt es dann sogar wieder öffentliche Aufträge für Unternehmen.

Wie sieht es aber mit der mittelfristigen Perspektive aus? Zunächst ein Blick zurück. Die griechische Wirtschaftsstruktur hat sich in den letzten 20 Jahren stark geändert. Zwischen 1995 und 2007 ist die griechische Wirtschaft massiv gewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs in dieser Zeit auf preisveränderungsbereinigter Basis um 55 Prozent; es lag 2007auf einem Niveau von 155 Prozent, wenn wir 1996 gleich 100 setzen. In der Krise seit 2009 ist die Wirtschaftsleistung dann drastisch eingebrochen. Sie ist heute etwa dort, wo sie vor 15 Jahren im Jahr des Beitritts zur Eurozone lag. Neben den direkten Wirkungen der Krise waren es die Austeritätsprogramme nebst hohem Schuldendienst, die zu diesen massiven BIP-Einbruch bewirkten.

Der größte Teil der „Bruttowertschöpfung“ entfällt in Griechenland – wie anderswo – auf die Dienstleistungsbereiche. Ohne Tourismus und Schifffahrt geht nichts. Das bedeutet aber nicht, dass die klassischen Sektoren unwichtig sind, im Gegenteil. Gerade hier zeigen sich stabilisierende und destabilisierende Entwicklungen der griechischen Ökonomie. So ging der Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung von 1995 bis 2007 von 8 auf 3 Prozent zurück; er liegt heute stabil bei 4 Prozent. Der Anteil der Industrie sank von 15 Prozent im Jahr 1995 auf 13 Prozent im Jahr 1998 und hielt sich seither etwa auf diesem Niveau, 2014 waren es 12 Prozent. Die massive Strukturkrise der griechischen Industrie lag in den frühen neunziger Jahren. Die Hoffnungen auf den Euro-Beitritt waren nicht zuletzt eine Reaktion auf diese Krise. Die Konjunkturschwankungen seither zeichnen sich in einem Bereich deutlich ab: im Baugewerbe. Mitte der 1990er Jahre brachte es dieser auf einen 6-Prozent-Anteil. 2004 waren es dann satte 9 Prozent. 2014 waren es nur noch knapp 2 Prozent der Bruttowertschöpfung.

Deutlich zugenommen hat die Importabhängigkeit des kleinen Landes. 1995 importierte Griechenland Waren und Dienstleistungen im Umfang von 22 Prozent des BIP. Schon im Jahr 2000 – mit der Aussicht auf den Euro-Beitritt zum 1. Januar 2001 – waren es 35 Prozent. Dabei ist es seither im wesentlichen geblieben. Allerdings liegt damit die griechische Importquote immer noch unter dem EU-Durchschnitt (42,9%) und deutlich unter dem Durchschnitt von anderen Peripherieländern wie Portugal (39,4%) , Rumänien (41,1%) oder Bulgarien (67,9%).

Die Exporte konnten mit den wachsenden Importen nicht Schritt halten. Das größte Defizit im Außenhandel entfiel auf die Jahre von Boom und Crash: 2007 bis 2010. Zusammengerechnet entstanden im griechischen Außenhandel von 1995 bis heute Defizite und damit Auslandsschulden in einer Höhe von 314 Milliarden Euro. Mehr als zwei Drittel davon bildeten sich zwischen dem Eurobeitritt und Ende 2010.

Für wirkliche Veränderungen nötig wären umfangreiche Investitionen. Teil der Brüsseler Vereinbarung vom 12. Juli ist es, den Zugang Griechenland zu EU-Fördermitteln im Umfang von 35 Milliarden Euro zu erleichtern. Was bedeutet das? Im Jahr 2008 betrugen die Investitionen in Griechenland 57,5 Milliarden Euro. In 2014 – dem Jahr des von Brüssel hoch gelobten realen Wachstums – waren es knapp 21 Milliarden. Die angekündigten Fördermittel entsprechen also noch nicht einmal dem Rückgang der Investitionen in einem Jahr. Und die versprochenen 35 Milliarden werden bestenfalls verteilt auf mehrere Jahre ausgezahlt. Weitreichende Veränderungen der griechischen Wirtschaft sind mit solchen Mitteln nicht zu erwarten. Ein fester Platz an der Peripherie des Eurosystems – mehr versprechen die Eliten in Berlin, Paris und Brüssel der griechischen Bevölkerung nicht.

Nach Jahren des wirtschaftlichen Niedergangs und einer zutiefst beängstigenden Krise des Finanzsystems ist schon die vage Aussicht auf eine Stabilisierung – dass es nicht mehr schlechter wird! – eine nicht zu unterschätzende positive Botschaft.

Allerdings bedeutet das neue Austeritätsprogramm, das mit der Vereinbarung vom 13. Juli aufgezwungen wird, die Fortsetzung der bisherigen Austeritätsprogramme. Deren Folgen sind bekannt und wurden beschrieben. Noch höhere Verbrauchersteuern – mit einem allgemeinen Mehrwertsteuersatz von 23 Prozent, was EU-Rekord ist – und nochmalige Rentenkürzungen müssen die Binnennachfrage zumindest auf mittlere Frist erneut senken. Die Mehrwertsteuererhöhungen bei Restaurants und die Beseitigung der Steuervergünstigungen für die griechischen Inseln werden die wichtige Tourismus-Branche schädigen bzw. die relativen Vorteile der Konkurrenz – z.B. in der Türkei – vergrößern. Die Rückführung der Steuervorteile in der verbliebenen Landwirtschaft wird die wichtige Belebung derselben verhindern. Sieht man also von den kurzfristigen Aufwärtseffekten ab, die mit der jüngsten Krise zu tun haben, so sind die weiteren konjunkturellen Aussichten alles andere als rosig.

Doch nach den großen öffentlichen Mobilisierungen der letzten Jahre werden die Menschen in Griechenland nicht einfach bescheiden in ihr Privatleben zurückkehren und auf dem Markt ein Auskommen suchen.

Gründe für die Suche nach Alternativen finden die Leute überall. Selbst die nüchterne Statistik gibt ihnen Recht: Kaum ein Land der Eurozone ist von so offener ökonomischer Ungleichheit geprägt, wie Griechenland. Das lange Wachstum bis 2007 hat zwar den Anteil der Unternehmen und Selbständigen am „Volkseinkommen“ der offiziellen Statistik sinken lassen – aber er lag immer über 50, zumeist deutlich über 60 Prozent. Selbst nach Berücksichtigung des hohen Selbständigenanteils von 30 Prozent der Erwerbstätigen ist das ein ganz außerordentlicher Wert. Gerade an dieser Stelle wird mit oder ohne SYRIZA um Vorschläge für eine sozial gerechte Verteilung der Krisenlast gekämpft werden.