Nadja Rakowitz in: FaktenCheck:HELLAS Nr. 2, Mai 2015

Der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte hat in den Jahren 2013 und 2014 jeweils eine Delegationsreise nach Athen und Thessaloniki organisiert. Wir wollten uns ein Bild von den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf das Gesundheitswesen machen, mit Menschen aus solidarischen Initiativen sprechen und die Möglichkeiten konkreter praktischer Solidarität ausloten. Neben den erschütternden Begegnungen mit Patientinnen und Patienten und z.T. inhaftierten Flüchtlingen und Gesprächen mit verzweifelten Krankenhaus-Beschäftigten war und ist das am meisten Beeindruckende – und weit über die Gesundheitspolitik hinausgehende – die Bewegung der solidarischen Praxen.

Es gibt inzwischen ca. 40 solidarische Praxen im ganzen Land. Zwei in Athen, diejenige in Thessaloniki, die in Piräus und die in Rethymno auf Kreta habe ich besucht. Diese Praxen wurden im Zuge der Krise oder im Zusammenhang mit der Versorgung von Menschen ohne Papiere gegründet. Sie gewährleisten eine ambulante fachärztliche Versorgung einschließlich der Bereitstellung von Medikamenten. In den großen Praxen arbeiten bis zu 200 Personen. Alle unentgeltlich und die meisten neben, also vor oder nach ihrer regulären Lohnarbeit. Dazu bedarf es ausgeklügelter Schichtpläne und großer Disziplin. Alle Menschen, die dort arbeiten, gehören zum Kollektiv und entscheiden ohne Hierarchie gemeinsam – von den Ärztinnen und Ärzten über die Sprechstundenhilfen, die in der Verwaltung und der Terminvergabe Beschäftigten bis zu denjenigen in der praxiseigenen Apotheke. Die Medikamente werden entweder direkt von der Bevölkerung gespendet oder von Geldspenden aus dem In- und Ausland gekauft. Die Geräte kommen meist von ausländischen Spendern oder Solidaritätsgruppen (die meisten davon übrigens aus Deutschland – so wurde mir berichtet). Alleine die große Praxis in Elliniko/Athen hat im Jahr 2013 20.000 Kranke behandelt. Dabei muss man wissen, dass sich die Lage danach noch einmal dramatisch zugespitzt hat – unter anderem deshalb, weil nun auch viele Menschen, die noch eine Krankenversicherung haben, in die solidarischen Praxen kommen, weil sie sich die Zuzahlungen nicht leisten können oder weil sie vom staatlichen Krankenhaus geschickt werden, das keine Medikamente mehr für Krebskranke hat…

Wie die Aktiven in diesen Praxen immer wieder betonen, arbeiten sie formal illegal, da sie keine Zulassung zur Patientenversorgung haben. Anfangs wurden sie deswegen auch von der öffentlichen Ärztekammer und dem Staat kritisiert und bekämpft. Angesichts der Misere werden sie inzwischen aber geduldet, denn ohne diese Praxen und die Arbeit der dort Engagierten würden noch viel mehr Menschen in Griechenland leiden und sterben als dies ohnehin der Fall ist. Die Aktivisen in den Praxen begreifen ihre Arbeit als eine Form des politischen Widerstands – nicht nur – gegen die Austeritätspolitik, sondern gegen jede Politik der Ungleichheit, die sich im Gesundheitswesen immer besonders drastisch zeigt.

Und die Aktiven in den solidarischen Praxen beweisen inzwischen bereits über einige Jahre hinweg, dass demokratische Selbstorganisation möglich und überhaupt die sinnvollste Art zu arbeiten ist. Und das, obwohl sich diese Menschen sicher politisch oft nicht einig sind – das war vor der Regierungsübernahme bei der Positionierung gegenüber SYRIZA so und das wird jetzt auch nicht anders sein. Diese Konflikte werden aber der gemeinsamen Sache der medizinischen Versorgung von armen Menschen nachgeordnet.

Vielleicht zeigt sich hier, dass gerade in der medizinischen Versorgung von kranken Menschen aus deren innerer Logik heraus etwas angelegt ist, was kapitalistischer Herrschaft und Ungleichheit widerspricht? Auf jeden Fall sind dies – mitten in der schwersten Krise – beeindruckende Beispiele von praktischem Widerstand, der mit enormer Kraftanstrengung geleistet wird und von dem wir uns mehr als ein Scheibchen abschneiden können.

Die Autorin arbeitet für „express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“