Sebastian Gerhardt in: FaktenCheck:HELLAS Nr. 3, Juni 2015
Die Kapitalflucht aus Griechenland hält an. Die Einlagen der Haushalte und nicht-finanziellen Unternehmen sanken im März um nur 2 Milliarden Euro, im April dagegen um 5 Milliarden. Nach dem großen Einbruch – von Dezember bis Februar waren es 24 Milliarden, davon die Hälfte im Wahlmonat Januar – hat sich die helle Panik in stabiles Misstrauen gegenüber den griechischen Banken verwandelt. Auch die sonstigen Konjunkturdaten für Griechenland sind nicht gut. Die Wirtschaftsleistung stagniert. Die Steuereinnahmen lagen bis einschließlich März deutlich unter dem Vorjahr. Die Saison im griechischen Tourismus, die auch die Leistungsbilanz mit dem Ausland wieder ausgleichen kann, beginnt erst im Juni.
Tatsächlich bildet die Entwicklung der Bankeinlagen nur die Spitze eines Eisbergs. Einen wirklichen Eindruck von der angespannten wirtschaftlichen Lage Griechenlands geben die Monatsausweise der griechischen Zentralbank, der Bank of Greece. Wie schon zwischen Frühjahr 2010 und Ende 2012 muss die Zentralbank auch derzeit wieder ihre Bilanzsumme massiv erhöhen, um den Rückgang privater und öffentlicher Kreditwürdigkeit auszugleichen: Von November 2014 bis April 2015 von 91 auf fast 160 Milliarden Euro. Die Passiv-Seite der Bilanz weist die Euroabhängigkeit des griechischen Bankensystems aus: Die gesamte Geschäftszunahme der Zentralbank wurde durch eine erhöhte Kreditaufnahme beim Eurosystem finanziert. Volkswirtschaftlich gesehen ist es nicht richtig, dass Griechenland seit dem letzten Herbst seine Schulden „ohne Hilfe von außen“ bedient, wie manche Syriza-Kollegen sagen.
Allerdings handelt es sich dabei nur zu einem sehr kleinen Teil um „verdeckte Staatsfinanzierung“, wie dies Bundesbankchef Jens Weidmann behauptet und öffentlich beklagt. Flössen die neu aufgenommenen Kredite in den Staatshaushalt, dann hätte Yanis Varoufakis keine Liquiditätsprobleme. Sie fließen in die private Wirtschaft. Vor allem wird damit die Kapitalflucht ermöglicht, die den Druck auf die Syriza-Regierung täglich erhöht. Diese Wirkung ist aber beabsichtigt und wird von Herrn Weidmann nicht kritisiert. Die EZB hat Anfang Februar die Liquiditätsversorgung der griechischen Banken massiv verteuert. Zugleich aber hat sie durch die Genehmigung der schrittweise Ausweitung der „Emergency Liquidity Assistance“ (ELA) der griechischen Zentralbank für den Verbleib Griechenlands im Netz der Eurozone gesorgt. Durch einen ELA- Stopp könnte die EZB eine Pleite des Landes in wenigen Tagen erzwingen. Sie tut es nicht. Da zeigt sich der eine Grund, warum die Eurogruppe immer noch mit der Regierung Tsipras verhandelt: Man hat Interesse an Griechenland.
Den anderen Grund hat der Chef des Euro-Rettungsschirms ESM Klaus Regling vor dem EU-Gipfel in Riga etwas widerwillig eingestanden. Befragt nach einem möglichen griechischen Zahlungsausfall sagte er: „Die griechischen Stelle haben wiederholt Zahlungsfähigkeit mobilisieren können, mehr als uns zuvor angekündigt wurde…“ Während in den Massenmedien gern über vermeintliche Amateure in Athen spekuliert wird, funktioniert das Liquiditätsmanagement des griechischen Finanzministeriums offenbar höchst professionell. Trotz der angespannten Lage werden die Löhne, Gehälter und Renten ebenso bezahlt wie der Schuldendienst. Und das sagt nicht nur etwas über die Qualifikation der neuen Chefetage, sondern vor allem sehr viel über die Loyalität der Beamten und damit über die politische Stabilität der Syriza-Regierung aus. Linksradikalen mag das unheimlich sein. Denn es heißt ja auch, dass in Athen keine „Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates“ stattfindet. Aber nicht nur Reformisten nach einem Wahlsieg, auch jeder Revolutionär war froh, wenn er am „day after“ auf erfahrene Verwaltungsfachleute zurückgreifen konnte. Das Ergebnis allerdings ist nur selbstverwaltete Austerität, bei minimalen sozialpolitischen Spielräumen.
Die weitere Entwicklung hängt nach Lage der Dinge nur zu einem Teil von den Griechen ab. Deshalb sind umfangreiche Erwägungen über die Qualität der Athener Reformpolitik nur ein Teil der Geschichte, ebenso wie die Berichte über erste Demonstrationen und Sozialproteste unter der neuen Linksregierung. Die großen Taschen haben die Herren und die Dame der Eurogruppe. Trotz aller Probleme sind diese Taschen gut gefüllt. Die Konjunktur in Euroland hat Fahrt aufgenommen. Das heißt nicht, dass es allen besser geht. Es heißt, dass die Unternehmensgewinne steigen und der Spielraum der Regierungen und der Eurogruppe wächst, zuletzt vielleicht auch für kleine Zugeständnisse an Griechenland. Eine starke bürgerliche Familie erträgt auch ihre schwarzen Schafe, solange es nur wenige sind. Aus Sicht der Regierungen in Berlin und Paris, in Rom und Madrid ist Griechenland genau das: ein, aber auch nur ein schwarzes Schaf.
Die Eurogruppe wird Syriza wahrscheinlich einen wenig ehrenhaften Kompromiss anbieten: Eine Teilauszahlung aus den 7,2 Milliarden des letzten Pakets oder eine weitere Erhöhung der Obergrenze im ELA-Programm. Und Syriza wird annehmen und sich im Gegenzug zu Zugeständnissen verpflichten müssen. Denn die griechische Regierung steht politisch in der EU völlig alleine da. Wer ihre Entscheidungen hierzulande als unzureichend links kritisiert, sollte zunächst seine Arbeitskollegen, Freunde, Nachbarn und Verwandten davon überzeugen, dass dringend eine andere deutsche Griechenlandpolitik nötig ist. Danach können sie oder er in der Kritik der Syriza-Politik fortfahren.
Zweifellos kann und muss man die Politik der griechischen Linkspartei kritisieren. Die Naivität, mit der ihre Vertreter nach dem Wahlsieg eine Kehrtwendung der Euro-Politik eingefordert haben, weist auf tiefliegende Irrtümer über den modernen Kapitalismus hin. Zum einen sehen Yanis Varoufakis wie sein Kritiker Costas Lapavitsas den entscheidenden Motor der wirtschaftlichen Entwicklung in der zahlungsfähigen Nachfrage und nicht etwa in der täglichen Arbeit, die allein die Reproduktion der Gesellschaft ermöglicht. Zum anderen halten sie die zahlungsfähige Nachfrage für weitgehend manipulierbar, weil mit Kreditfinanzierung vermeintlich aus dem Nichts für Absatz gesorgt werden könnte. Tatsächlich aber besteht der Kern des modernen Geldwesens darin, den Bestand des Privateigentums sicherzustellen. Auf dem Markt gibt es deshalb nichts geschenkt, schon gar nicht für Linke. Aber wie an beiden Irrtümern leicht festzustellen: Auch die Kritiker der Syriza-Mehrheit teilen zumeist ihr wirtschaftliches Weltbild. Leider.
Natürlich gibt es auch Alternativen, mehrere sogar. Nicht alle sind besser. Die griechische Regierung könnte versuchen, durch Einführung von Kapitalverkehrskontrollen und eine Parallelwährung den Einfluss der EZB in Griechenland zu vermindern. Doch im Außenhandel kann man mit einer Binnenwährung nicht bezahlen. Und im Inland wäre die Frage, zu welchem Abschlag diese Parallelwährung gehandelt würde. Wie so etwas aussieht? Ein Beispiel für eine ebenso selbstverwaltete wie nachhaltige Austerität ganz außerhalb des Euro liefert die Wirtschaftsgeschichte Polens seit 1989. Kein Vorbild allerdings für eine solidarische Krisenlösung.
Ganz ungelegen käme ein Austritt Griechenlands aus dem Euro den Plänen für ein neoliberales Kerneuropa nicht. Auch Berlin hat einen Plan B. Um einer Finanzkrise nach dem Austritt Griechenlands vorzubeugen, werden verschiedene Länder der Eurozone bereit sein, sich einer weitgehenden Kontrolle über ihre Staatsfinanzen zu unterwerfen – im Gegenzug zu einer teilweisen Vergemeinschaftung der Staatsschulden in Euroland. Die Blaupause dafür liegt mit dem Gutachten des deutschen Sachverständigenrates vom Herbst 2011 auf dem Tisch. Alexis Tsipras hat diese Gefahr in seinem Beitrag für Le Monde<I> vom 31. Mai erstmals wahrgenommen. Darin schreibt er von möglichen „Superfinanzminister“ der Eurozone, der die Haushaltspläne souveräner Regierungen zurückweist, wenn sie nicht ordentlich neoliberal sind.
Wer andere Alternativen will, muss anders an den Konflikt herangehen. Eine solidarische Politik für Europa kann aus Athen eingefordert, aber nicht dort erkämpft werden. Der Wahlsieg von Syriza ist nur dann ein Anfang, wenn weitere Schritte in anderen Ländern folgen. Und das braucht Zeit. Eine Überforderung des griechischen Aufbruchs ist politisch tödlich.
In einer äsopischen Fabel prahlt ein Reisender mit seinen großen sportlichen Leistungen auf Rhodos, bis ihn seine Zuhörer auffordern, sie vor ihren Augen zu bestätigen: „Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“ Für politische Leistungen gilt das gleiche.