Aus: FaktenCheck:HELLAS, Ausgabe 4, Juli 2015

Nach der Kapitulation von Alexis Tsipras in der Runde der Eurozonenländer fallen die Stammtisch-Parolen zu Griechenland auf besonders fruchtbaren Boden. FaktenCheck:HELLAS greift aus diesem faulig-welken Strauß ein gutes halbes Dutzend heraus und liefert die gewohnt sachlichen Antworten.

Behauptung 1: Die griechische Regierung hat seit ihrer Wahl vom 25. Januar keine glaubwürdige Politik betrieben und niemals die geforderten „Reform-Listen“ geliefert.

FCH-Antwort: Richtig ist, dass der griechischen Regierung nach ihrer Wahl von ihren „Partnerregierungen“ in den anderen Eurozonen-Ländern auch nicht eine Woche Ruhe gelassen wurde, um eine echte Regierungstätigkeit zu entfalten. Es war von vornherein klar, dass in Berlin und Brüssel die Devise ausgegeben wurde: Tsipras muss weg; SYRIZA muss gespalten werden. Was die „Listen“ betrifft, so trifft das Gegenteil zu: Die griechische Verhandlungsdelegation hat in Brüssel mehrmals genau durchgerechnete Listen mit Vorschlägen vorgelegt und diese auch veröffentlicht. Ihr grundlegender Ansatz war dabei allerdings ein diametral anderer als derjenige, den die Gläubiger hatten. Und dies in drei Punkten: Erstens sollte anstatt primär zu sparen ein wirtschaftliches Wachstum erreicht werden; dadurch sollten die öffentlichen Einnahmen gestärkt werden. Zweitens sollten durch höhere Steuern bei den Reichen und mittels Bekämpfung der Steuerflucht die Steuereinkommen erhöht werden. Drittens sollte das getan werden, was nach Adam Riese getan werden muss: Mit einem deutlichen Schuldenschnitt sollte erreicht werden, dass Land und Bevölkerung Atem holen können. Schließlich sollte dann die akzeptierte Restschuld bezahlt werden. Die Gläubiger jedoch wollen Austerität – die massive und fortgesetzte Kürzung öffentlicher Ausgaben und der Masseneinkommen. Dies trug wesentlich zur tiefen Krise bei, in der sich das Land seit 2011 befindet.

Übrigens: Während alle auf die Verhandlungen in Brüssel starrten, waren das Parlament und die griechische Regierung in Athen durchaus aktiv. Es gab mehrere Dutzend sinnvolle Maßnahmen im sozialen Bereich, im Gesundheitssektor, im Ausbildungs- und Erziehungssektor. Wir dokumentierten solche in FCH01 (S.3). Siehe auch die aktuellen Entscheidungen hinsichtlich der Lage der Flüchtlinge (in dieser FCH, Seiten 6/7).

Stammtisch-Behauptung 2: Griechenland ist ein heruntergewirtschaftetes Land.

FCH-Antwort: So ist es. Dies sagte SYRIZA vor der Wahl und dies sagt die griechische Regierung seit Ende Januar. Und es ist die kapitalistische Börsenzeitung vom 2. Juli, die deutlich machte, wer für diesen Zustand verantwortlich ist: „Die Vorgängerregierungen in Athen haben das Land zu Schanden geritten“. Diese Regierungen <I>vor<I> der von SYRIZA geführten Regierung wurden jahrzehntelang von den Schwesterparteien der CDU/CSU (Nea Demokratia) und der SPD (PASOK) gestellt.

Stammtisch-Behauptung 3: Griechenland und die Gläubiger hatten sich bis Ende Juni in den Verhandlungen sehr weit aneinander angenähert. Es war falsch und absurd, dass Tsipras und Varoufakis dann plötzlich den Verhandlungstisch verließen und das Referendum ansetzten.

FCH-Antwort: Das ist zu einem großen Teil richtig. Das heißt aber im Klartext: In diesen Verhandlungen, die mehr den Charakter von monatelanger Erpressung hatten, gab SYRIZA in vielen Punkten die eigenen Positionen, für die sie gewählt worden war, auf. Die griechischen Verhandler mit Yanis Varoufakis an der Spitze knickten hier auch deshalb ein, weil sie weder bei anderen Eurozonen-Ländern eine Unterstützung fanden, noch hatte sich in Europa eine breite Solidaritätsbewegung zu ihrer Unterstützung entwickelt. Griechenland war isoliert und ist weitgehend isoliert. Das hat nichts damit zu tun, dass die SYRIZA-Politik falsch wäre. Im Gegenteil: Die Regierungschefs in Madrid, Rom, Lissabon und Dublin fürchteten im Gegenteil, dass ein Erfolg von SYRIZA dazu führen würde, dass im eigenen Land die Kräfte, die ein Ende der Austerität fordern, gestärkt – und sie aus ihren Regierungssitzen hinweggefegt – würden.

Stammtisch-Behauptung 4: Ein Referendum anzusetzen war falsch. Erstens wegen besagter Annäherung. Und zweitens, weil eine derart komplexe Thematik wie die, um die es bei den Verhandlungen zwischen den Gläubigern und Griechenland ging, die einfache Bevölkerung nicht versteht.

FCH-Antwort: Das ist zweifach falsch. Zunächst kehrten Tsipras und die griechische Regierung mit ihrer Entscheidung für ein Referendum „nur“ zurück zu ihren ursprünglichen Positionen – zu dem Programm, für das die Menschen sie gewählt hatten. Sodann war das „Reformprogramm“, das die Gläubiger bis Ende Juni vorgelegt hatte, ziemlich klar und verständlich: Steuern rauf, Renten runter, Staatseigentum zum Spottpreis verkaufen. Wobei letzteres heißt: Bald ist noch mehr Geld für Strom, Wasser, Transport und Gesundheit zu bezahlen. Das kapierte jeder im Land. Es war im Übrigen Wolfgang Schäuble, der im Mai erklärt hatte, er halte ein Referendum für „eine sinnvolle Idee“. Allerdings dachten er und die Herren in der EU-Zentrale dabei an ein Referendum, das den Ausverkauf des Landes absegnen sollte – mit Zustimmung von Tsipras. Eine echte demokratische Entscheidung wollte man nie.

Stammtisch-Behauptung 5: Mit dem Referendum wurde die Bevölkerung in Griechenland gespalten.

FCH-Antwort: Das Gegenteil trifft zu. Das Referendum einte Land und Bevölkerung wie noch nie seit dem Sturz der Militärdiktatur 1974. 61,3 Prozent stimmten für „Nein“. Es gab keinen Wahlbezirk, in dem es kein „OCHI“ gegeben hätte – selbst in eher rechts oder konservativ geprägten Regionen wie auf dem Peloponnes oder in Nordgriechenland gab es – gelegentlich knappe – Mehrheiten für ein „Nein“. Und oft gab es 70-Prozent Nein-Stimmen, z.B. auf Kreta. Bedenkt man, dass die Kommunistische Partei (KKE) aufrief, spezielle eigene KKE-Nein-Wahlzettel in die Urnen zu werfen, die jedoch als „ungültig“ gezählt werden mussten, dann gab es sogar eine Zweidrittel Mehrheit mit „Nein“. Eine solche breite Basis bei einer für Land und Leute entscheidenden Frage ist ziemlich einmalig für eine moderne Zivilgesellschaft. Dem entsprechen auch die repräsentativen Umfragen zur Parteienpräferenz: Nach dem Referendum lag die Zustimmung zu SYRIZA bei 45, teilweise bei 50 und mehr Prozent. Das waren gut 10 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl Ende Januar.

Stammtisch-Behauptung 6: Die Sparprogramme, die die Gläubiger von Griechenland verlangen, sind sinnvoll und akzeptabel. Sie entsprechen den Standards in anderen Ländern der Eurozone.

FCH-Antwort: Die Unsinnigkeit dieser Programme wird mit dem Absturz der griechischen Ökonomie seit 2010 dokumentiert, als just solche Programme umgesetzt wurden. Richtig ist, dass die neoliberale Medizin in vielen Ländern verabreicht wird und dass Austerität als heilige Kuh gilt. Das heißt aber nicht, dass das gut so ist. Schließlich stieg in der Eurozone trotz und vor allem wegen der Austeritätspolitik seit 2010 die Schuldenquote, es erhöhte sich die allgemeine Erwerbslosenquote. Es explodierte fast überall die Jugendarbeitslosigkeit. Gleichzeitig sanken die Masseneinkommen. Im Übrigen wird Griechenland mit dem neuen „Memorandum“ bei der Mehrwertsteuer Rekordniveau haben. Und die Renten, die seit 2010 bereits um bis zu 40 Prozent gekürzt wurden, werden nun weiter sinken. Die Krise wird sich vertiefen. Was die Selbstmorde weiter ansteigen lassen und die Auswanderung beflügeln wird. Gut so? Nein: Das ist schlecht für Land, Leute und Demokratie.

Stammtisch-Behauptung 7: Es ist absurd, dass Tsipras und eine Mehrheit von SYRIZA jetzt Ja sagen zu einem Reformprogramm, das sie im Referendum abgelehnt haben.

FCH-Antwort: Wir würden das nicht als „absurd“ bezeichnen. Doch der Widerspruch ist real und nicht zu übersehen. Er kann nur mit dem auf Seite 1 beschriebenen Vorgang erklärt werden: Dieser Widerspruch ist Ergebnis von Erpressung. Die Vertragsunterzeichnung in Brüssel und das, was von dem Parlament in Athen nun per Diktat aus Brüssel und Berlin verlangt wird, ist nach bürgerlichem Recht schlicht sittenwidrig. Oder auch: kriminell. Auf alle Fälle ist es inhuman: erneut werden Zins und Zinseszins und de Profite von Konzernen aus den Ärmsten und der durchschnittlichen Bevölkerung gepresst.