Rechter Populismus und Migration. Von Sebastian Gerhardt
Vorab aus FaktenCheck:EUROPA #1, die am 30. Juni 2016 erscheint
Gleich nach dem Erfolg des Brexit-Votums stellte Nigel Farage von der UKIP – der United Kingdom Independent Party – klar, dass ein zentrales Versprechen der Kampagne zum Verlassen der EU von ihm nie unterstützt worden sei: Die „350 Millionen Pfund“, die wöchentlich in das staatliche britische Gesundheitswesen gesteckt werden könnten, wenn nur erst die überflüssigen Überweisungen nach Brüssel wegfallen, diese 350 Millionen Pfund – über 420 Millionen Euro – werden nicht kommen. Nicht heute, nicht in zwei Jahren, gar nicht. Aber Nigel Farage hat damit kein Problem. Er hat dieses Versprechen ja nie unterstützt. Nur der ehemalige konservative Bürgermeister von London, Boris Johnson, muss nun sehen, wie er als neuer starker Mann der Konservativen Partei von den Versprechen wegkommt, die er als Frontmann der rechten Brexit- Kampagne gemacht hat.
Die rechte Ablehnung der EU kreist um zwei Themen. Das eine ist die Kritik an der EZB, wie sie in Deutschland vor allem von der AfD vorgebracht wird. Die Ultraliberalen sehen in der Geldpolitik der Zentralbank eine unzulässige Einschränkung der Marktkräfte. Insbesondere die niedrigen Zinsen der letzten Jahre halten sie für eine Verletzung ihres Menschenrechts auf hohe Vermögenseinkommen. Dass die Zentralbank die Zinsen nicht bestimmt, sondern selbst der Marktentwicklung folgen muss – auf diese Idee kommen diese unzufriedenen Kleinbürger nicht. Auch das jüngste Scheitern der liberalen EZB-Kritiker vor dem Bundesverfassungsgericht am 21. Juni 2016 wird sie nicht in ihrem Vertrauen auf die allein selig machenden Wirkungen ungezügelter Konkurrenz erschüttern.
Doch mit der Geldpolitik haben die britischen Konservativen kein Problem. Das Vereinigte Königreich gehört nicht zur Euro-Zone. Alle daher rührenden – berechtigten oder unberechtigten – Kritiken entfallen. Dagegen rückten die Konservativen wie UKIP bereits in den Parlamentswahlen 2015 das zweite Thema der rechten EU-Kritik ins Zentrum: die Einwanderung. In diesem Wahlkampf hatte der konservative Premier David Cameron das Referendum über die EU-Mitgliedschaft versprochen: als Mittel, die eigene Partei zu einen und die Labour Party an die Wand zu drücken. Letzteres gelang, ersteres nicht. Die britischen Konservativen fremdeln seit Jahren mit der EU, die ihnen noch viel zu stark regulierend in die Wirtschaft eingreift. Mit dem Slogan einer Begrenzung der Zuwanderung zog Cameron in die Verhandlungen mit der EU. Ein Jahr später steht er als Zauberlehrling vor den Trümmern seiner Politik.
Schon im Wahlkampf 2015 ging es einerseits um die Flüchtenden, die etwa von Calais aus versuchen, irgendwie über den Kanal zu gelangen. Kurz vor der Brexit-Abstimmung wurde mit drohenden Flüchtlingsströmen kräftig Stimmung gemacht. Vor allem aber ging es – andererseits – um die legale Einwanderung, unter anderem aus den Staaten der EU. Dabei wird im übrigen die Auswanderung aus Großbritannien seltener diskutiert: Jährlich verlassen 300.000 bis 450.000 Menschen das Land.
Die Medien skandalisieren gern die Arbeitsmigration aus Polen, die durch den Beitritt des Landes zur EU 2004 deutlich erleichtert wurde. Immerhin gab es Ende 2013 unter den gut 63 Millionen Einwohnern Großbritanniens nach offiziellen Angaben fast 700.000 Menschen, die in Polen geboren wurden. Inoffizielle Schätzungen belaufen sich auf etwa eine Million. Unter den Zuwanderern aus Europa bilden die Polen die größte Gruppe. Doch nicht alle von ihnen sind im arbeitsfähigen Alter, nicht alle sind beschäftigt. Sicher ist die Arbeitsmigration auf dem Arbeitsmarkt spürbar. Und wie alle Migranten aus ärmeren Ländern bekommen die Zuwanderer nicht die bestbezahlten Jobs. Von den polnischen Kollegen der Inicjatywa Pracownicza, einer linken Basisgewerkschaft, haben viele schon längere oder kürzere Zeit, teils mehrfach in Großbritannien gearbeitet. Sie sagen, dass von den drei echten Massenbewegungen der polnischen Gesellschaft – Fußballfans, katholische Kirche und Gewerkschaften – nur zwei auf die britischen Inseln mitgenommen wurden: Kirche und Fußball.
Dem sprichwörtlichen polnischen Handwerker deshalb Lohndrückerei vorzuwerfen, ist entweder dumm oder bösartig. In einer globalisierten Welt treffen auch auf den nationalen Arbeitsmärkten Menschen mit sehr verschiedenen Lebensverhältnissen aufeinander. Was für die einen ein Hungerlohn wäre, weil sie mit ihrer Familie in einer Metropole mit hohen Preisen leben, kann für Migranten mit einer Familie in der Peripherie ein Auskommen für alle Angehörigen bedeuten. Dieser Gegensatz ist objektiv und nicht durch Wünsche oder Parolen, sondern nur durch gemeinsames Organisieren solidarischer Perspektiven aus der Welt zu schaffen.
Vor 20 Jahren waren es britische und irische Bauarbeiter, die auf den deutschen Arbeitsmarkt drängten. Denn zu Hause gab es für sie keine, schon gar keine gutbezahlten Jobs. Lange vor Maggie Thatcher hat sich eine ganz eigene, britische Tradition von Austerität und Lohndumping entwickelt. Und dann war es nicht besser geworden, sondern schlimmer. Auf dem Kontinent aber konnten sich die Bauarbeiter als Subunternehmer oder Selbstständige anbieten. Für die deutschen Unternehmen hieß das: geringere Sozialabgaben. Die Kollegen von den Inseln waren konkurrenzfähig. Auch das gab Konflikte. Doch als Jugendliche im brandenburgischen Mahlow am 16. Juni 1996 drei britisch-jamaikanische Bauarbeiter angriffen, da ging es nicht um Löhne, sondern um Rassismus. Sie verfolgten die Flüchtenden und führten einen schweren Autounfall herbei. Seitdem, seit 20 Jahren, ist Noël Martin aus Birmingham vom Hals abwärts gelähmt. In Mahlow hat sich vieles geändert, wie in anderen Gemeinden des Speckgürtels um Berlin. Und es gibt einen Jugendaustausch mit Birmingham und Aktive, die für Geflüchtete und gegen Rassismus arbeiten. Allerdings gab es im Februar 2016 auch einen Brandanschlag auf ein Gebäude, das für eine Flüchtlingsunterkunft vorbereitet wurde.
Die offizielle Arbeitslosenrate in Großbritannien betrug im Mai 2016 gerade 5 Prozent. Zuletzt lag sie im Oktober 2005 auf einem so niedrigen Niveau. Die andere Seite der Medaille sind die vielen, die auch mit einem – oder mehreren – Jobs nicht über die Runden kommen. Doch das hat nichts mit der Migration, aber alles mit fast 40 Jahren neoliberaler Politik zu tun. Mit der Brexit-Kampagne ist es einer Strömung in der konservativen Partei gelungen, einen Teil der Empörung über Verarmung und Sozialabbau in ein neues, rechtes populistisches Projekt zu integrieren: Gegen „Brüssel“ und für das Vaterland! Solange die Empörung über die eigene Not auf die Migranten gerichtet wird, können die Streitigkeiten der Eliten um die Verteilung der großen Profite mit aller Heftigkeit ausgetragen werden. Wenn nur verschiedene Versionen herrschender Politik zur Abstimmung stehen, ist nichts zu befürchten. Bertolt Brecht mahnte einst: „Nationalismus wird nicht dadurch gut, dass er in den Köpfen armer Leute steckt. Er wird dadurch nur ganz und gar unsinnig.“ Recht hat er.
Sebastian Gerhardt war Mitinitiator von Faktencheck:HELLAS, er ist im Redaktionsteam von FCE und Geschäftsführer von Lunapark21.
Fakten zu Geflüchteten in Großbritannien:
http://www.redcross.org.uk/What-we-do/Refugee-support/Refugee-facts-and-figures
http://www.refugeecouncil.org.uk/policy_research/the_truth_about_asylum