Arbeitsmarkt und Migration in Europa
von Sebastian Gerhardt
Rassistische Hetze gegen Migranten gehört zum Markenkern jeder rechten Politik, die eine Massenbasis mobilisieren soll. Das zeigen der Wahlkampf von Donald Trump und die Brexit-Kampagne von Boris Johnson und UKIP. Das zeigen der Aufstieg der AfD oder die lange Karriere des Front National in Frankreich. Für diese Politik gibt es einen schlichten Grund: Erfolg. Immer wieder gelang es, auf diesem Weg von dem entscheidenden Widerspruch zwischen unten und oben abzulenken, Solidarität zu verhindern, die Konkurrenz unter den Beschäftigten und Erwerbslosen zu verschärfen eine unsoziale Politik durchzusetzen. Seit 1986 gibt es die gewerkschaftliche Aktion der gelben Hand gegen Rassismus.(http://www.gelbehand.de) Sie war damals so nötig wie heute. Immer wieder aufs Neue muss gezeigt werden: Gewerkschafter und Linke haben bei der Spaltung der arbeitenden Klasse in verschiedene nationale Gruppen nichts zu gewinnen. Es geht nicht darum, die Überzeugten noch einmal zu überzeugen. Es geht darum, die Kolleginnen und Kollegen für die besondere Anstrengung der Solidarität zu gewinnen. Dazu sollen hier von vielen möglichen nur drei Fragen behandelt werden.
Frage 1 Haben die Arbeiterinnen und Arbeiter ein Vaterland? Antwort: Ja, manche sogar zwei. Migranten haben ihr Herkunftsland selten „hinter sich gelassen“. Sie haben in der Regel ihre Schwierigkeiten nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei Vaterländern. Sie brauchen etwa gültige Personaldokumente und Zeugnisse aus dem einen Land für die entsprechenden beglaubigten Übersetzungen in dem anderen, für die Ausländerbehörde, für Chefs und Vermieter und viele andere mehr. Die Statistiker der Europäischen Kommission bezifferten 2014 die „potentiell wirtschaftlich aktive“ Bevölkerung – Altersklasse 15plus – auf etwa 242 Millionen Menschen. Davon kamen 29,5 Millionen aus anderen Ländern – das sind 12 Prozent, also jede und jeder Achte! Auf die EU-Binnenwanderung entfielen 11 Millionen, nicht ganz 19 Millionen Menschen kamen aus Staaten außerhalb der EU. Tatsächlich erwerbstätig waren in den Ländern der EU im Jahr 2014 gut 213 Millionen Menschen. Unter ihnen bilden die Migranten noch eine Gruppe von knapp 8 Prozent, etwa jeder 13. Das ist wesentlich. In einem Bus am Morgen mit nur 40 Fahrgästen trifft man im Durchschnitt schon 3.
Die Zahl der Menschen mit nicht-nationaler Herkunft ist in den letzten 20 Jahren nochmals gestiegen. Beispiel Großbritannien: Anfang 1997 waren von den 26,2 Millionen Erwerbstätigen im Vereinigten Königreich 1,9 Millionen „im Ausland geboren“ (7 Prozent) und nur 928.000 Menschen mit einem anderen Pass (3,6 Prozent). Im Juni 2016 waren von 31,7 Millionen Erwerbstätigen dagegen 5,4 Millionen „im Ausland geboren“ (17 Prozent) und 3,5 Millionen (11 Prozent) auch juristisch Ausländer. In der Bundesrepublik ist der Anteil der „Nichtdeutschen“ an der Wohnbevölkerung allerdings von 1997 bis 2013 praktisch bei etwa 9 Prozent stabil geblieben, erst die Zuwanderung im Zuge der Euro-Krise und die Flüchtlinge des Jahres 2015 führten zu einem Anstieg auf 11 Prozent. Im September 2016 waren von den 31 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland 89,9 als „deutsch“, 10,1 Prozent als „Ausländer“ registriert.
Andererseits bedeuten all diese Zahlen auch: Die meisten Menschen leben und arbeiten in dem Staat, in dem sie geboren wurden. Das gilt für die arbeitende Klasse ebenso wie für das Kapital, denn die „globale Wirtschaftselite“ ist eine Legende. (Michael Hartmann, Campus Verlag 2016) Wenn also nach der Verantwortung für die Zustände hierzulande oder in Großbritannien gefragt wird, dann sollte auf die Einheimischen geguckt werden.
Frage 2 Haben die insgesamt niedrigeren Löhne von Migranten objektive Gründe? Antwort: Ja, denn soziale Kräfteverhältnisse sind ziemlich objektiv, wenn auch nicht unveränderbar. Migranten erscheinen dort auf dem Arbeitsmarkt, wo es für sie eine Hoffnung auf Jobs gibt. Sie bewerben sich auf Stellen, die in Unternehmen durch Investitionen geschaffen werden. Deshalb entfiel in den letzten Jahren die größte Zuwanderung in Europa auf die kapitalistisch erfolgreichen Staaten Großbritannien und Deutschland. In diese beiden Staaten ging 2014 mehr als die Hälfte aller Einwanderer aus anderen EU-Ländern. Die Einwanderung aus Drittländern ist etwas gleichmäßiger verteilt, sie erfolgte auch in die großen Staaten am Mittelmeer: Spanien, Frankreich und Italien, was eher geographische als wirtschaftliche Gründe hat. Staatliche Sozialleistungen – gerade in Großbritannien eher gering – spielen keine große Rolle bei der Suche nach einem Job im Ausland.
Über die Löhne, Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migranten wird im Rahmen bestehender Gesetze, Regeln und der sozialen Kräfteverhältnisse entschieden. Die Zuwanderer müssen sich in diese Systeme einfügen, die sie fertig vorfinden. Das heißt in Großbritannien: Selbst feste Arbeitsverträge bieten kaum mehr Schutz als Zeitverträge hierzulande. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad liegt bei etwa 25 Prozent – höher als in Deutschland mit 18 Prozent. Doch die Reichweite von Tarifverträgen ist weit geringer. In der Bundesrepublik fallen noch 55 Prozent der Beschäftigten unter eine Tarifeinigung, in Großbritannien etwa 30 Prozent. In Frankreich ist es ganz anders: Bei einem Organisierungsgrad von weniger als 8 Prozent gibt es doch Tarifverträge für über 90 Prozent der Beschäftigten, die politisch gewollte Allgemeinverbindlichkeit macht es möglich. (Doch hilft das erst, wenn man eine Stelle hat.)
Selbstverständlich war eine massive Ausweitung der Arbeitsmigration gerade aus den EU-Ländern ein zentrales Element der Profitstrategien des britischen Kapitals. Doch die Umgestaltung der britischen Wirtschaft wurde nicht durch die Wohnortwechsel von Polen oder Rumänen gestaltet, sondern durch Kapitalinvestitionen und politische Entscheidungen der Mehrheitsgesellschaft.
Ja, wenn die Familien von Migranten noch im Herkunftsland wohnen, dann können sie auch mit einem geringeren Einkommen über die Runden kommen – um den Preis der Trennung von der Familie. Doch ihre Einkommen sind insgesamt auch dann geringer, wenn ihre Kinder schon lange in britische oder deutsche Schulen gehen. Das hat nichts mit Sprachproblemen, anderen Ausbildungssystem oder Lebenshaltungskosten zu tun. Das ist schlichte Diskriminierung, die im Einzelfall den einheimischen Beschäftigten einen klaren Vorteil in der Konkurrenz verschafft.
Die Arbeitslosigkeit von Migranten liegt – bei großen nationalen Unterschieden – deutlich höher als bei „Einheimischen“, für Menschen aus Drittstaaten außerhalb der EU regelmäßig bei einem Mehrfachen. Charakteristisch ist, dass auch in der zweiten Generation die Diskriminierung von Migranten deutlich sichtbar ist, wieder besonders deutlich für Menschen, deren Eltern nicht aus der EU kamen. In einigen Ländern – Griechenland, Italien – ist die Erwerbslosigkeit für Migranten in der zweiten Generation sogar deutlich höher als in der ersten: Die hohe Jugendarbeitslosigkeit schlägt sich hier nieder. Die offizielle Arbeitslosenrate in der Bundesrepublik lag im September 2016 bei 5,9 Prozent. Unter den Deutschen waren es jedoch nur 4,9 Prozent – unter den Ausländern 15,1 Prozent.
Frage 3 Hat der Erfolg des rechten Populismus objektive Gründe? Ja, siehe oben. Karl Marx schrieb: „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Das war keine soziologische Beschreibung, sondern eine revolutionäre Hoffnung. Praktische Solidarität ist keine Selbstverständlichkeit, sondern immer eine politische Aufgabe, auch wenn der eine oder andere Slogan ganz selbstverständlich klingt: Mach meinen Kumpel nicht an!
Sebastian Gerhardt ist Mitglied der Redaktion von Lunapark21