Aus: FaktenCheck:HELLAS Nr. 3, Juni 2015
Griechenland steht vor der Staatspleite. Das ist auch dann der Fall, wenn es in diesen Tagen noch ein gewisses Nachgeben von Internationalem Währungsfonds (IWF), EU und Berliner Regierung gibt (z.B. Kreditrückzahlung auf Raten). Allein in den Monaten Juni bis September muss das Land mit 13,1 Milliarden Euro mehr an seine Gläubiger zahlen, als es maximal – bei voller Auszahlung der letzten Tranche aus den zugesagten Krediten – von seinen Gläubigern bekommen kann. In den letzten Wochen ließen die Verantwortlichen in Athen die letzten Euros zusammenkratzen – sogar bei einem Fonds für Katastrophenhilfe. Empört reagieren die Medien: „Konten geplündert“ (Süddeutschen Zeitung vom 13. Mai).
Doch wer plündert hier wen? Die drastischen Maßnahmen in Griechenland kommen zustande, weil IWF, EU und Berliner Regierung das Land seit fünf Jahren ausplündern. Weil diese drei den Würgegriff seit fünf Monaten verstärken. Und dabei unsere Sinne vernebeln mit ihrem marktradikalen Geschrei nach „Reformen“ und „Austerität“.
Erzwungen wird in Griechenland seit 2010 eine strikte Austeritätspolitik. „Austeritas“ wird gewöhnlich übersetzt mit „Strenge“; auch mit „Roßkur“. Das klingt nach schwäbischer Hausfrau. Das Wort heißt im Lateinischen jedoch auch: das düstere, finstere Wesen. Das trifft die Sache besser. Erzwungen wird eine düstere, finstere Sparpolitik auf dem Rücken der Armen, der Arbeitslosen und der Normalverdiener. Auf diese Weise wurden in Griechenland seit 2009 die Reallöhne und die Renten um bis zu 30 Prozent gesenkt, die Staatsausgaben um 40 Prozent reduziert und die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor von 952.500 auf 573.900 abgebaut – ebenfalls ein Minus von knapp 40 Prozent. Die Arbeitslosigkeit wurde auf mehr als 25 Prozent verdreifacht. Die Jugendarbeitslosigkeit auf ein Rekordniveau von mehr als 60 Prozent hochgeschraubt. Selbst wenn wir die moralischen und die sozialen Aspekte beiseitelassen, so ist offenkundig: Diese Wirtschaftspolitik zeitigt auch gesamtwirtschaftlich finstere, düstere Folgen. Die – im übrigen unter Samaras eingesetzte – „Generalsekretärin für öffentliche Einnahmen“, Frau Aikaterini Savvaidou, stellt fest: „Ich brauche dringend mehr Personal, um Steuern eintreiben zu können. Vor allem: Steuerprüfer!“ Welch eine absurde Folge von „Austeritas“: unzureichende Staatseinnahmen.
Bringt diese Art Wirtschaftspolitik dann anderswo Fortschritte? Schlagen sich die sozialen und humanitären Opfer wenigstens in einem solideren Staatshaushalt nieder? Tatsächlich stiegen die Schulden Griechenlands seit 2010 – trotz Schuldenschnitt und trotz sogenannten Hilfsprogrammen. Vor allem steigen sie als Anteil am Bruttoinlandsprodukt drastisch an. Von 110 Prozent Anteil am BIP vor der Krise auf 2015 rund 180 Prozent (siehe Wortmeldung). Welch eine düstere Folge von „Austeritas“- eine ständig ansteigende Verschuldung!
Ist Griechenland vielleicht die Ausnahme? Gibt es nicht all diese leuchtenden Beispiele von Peripherieländern, die „es geschafft haben“, von denen es heißt Irland (Spanien, Portugal, Zypern usw.) sei „nicht Griechenland!“ Bei diesen Ländern, so IWF, EU und Berliner Regierung, zeige sich doch: Austerität wirkt! Die Ergebnisse lauten wie folgt: Irland hatte vor Verabreichung des Medikaments Austeritas eine Schuldenquote von 43 Prozent – 2014 waren es 110 Prozent. In Spanien kletterte dieser entscheidende Indikator von 53 auf 100 Prozent. Und in Portugal von 84 auf 130 Prozent! Selbst im Gesamtwirtschaftsverband Eurozone steigt der Verschuldungsgrad an – seit auf die Austeritätslinie eingeschwenkt wurde. Eine höchst finstere Folge der Austerität – die allgemein ansteigende Verschuldung.
Aber warum, so lässt sich fragen, kommt es dann zur Anwendung der Rezeptur Austeritas, wenn diese – neben katastrophalen sozialen Folgen – auch umfassende gesamtwirtschaftliche Nachteile zur Folge hat? Tatsächlich übersetzen sich die Nachteile in der Peripherie und bei den Menschen in diesen Regionen anderswo in Vorteile. Um nur drei zu nennen:
(1) Die Zahlungsbilanzdefizite der genannten Peripherieländer betrugen seit 2009 mehr als 500 Milliarden Euro. Dem steht ein Plus in der deutschen Zahlungsbilanz von rund 1000 Milliarden Euro (seit 2009) gegenüber.
(2) Der Finanzsektor blüht aufgrund der Verschuldung der Peripherie auf. Beispiel Griechenland. Das Land erhielt offiziell seit 2009 227 Milliarden Euro neue Kredite – und zahlte im gleichen Zeitraum bereits 194 Milliarden für Zins und Tilgung. Seit 1991 zahlte Griechenland 664 Milliarden Euro für Zins und Schulden an Finanzinstitute – doppelt so viel wie der gesamte Schuldenberg.
(3) Die Austeritätspolitik bewirkt EU-weit eine drastische Senkung der Arbeitskosten (oder der Einkommen der Beschäftigten). Die Löhne sinken vor Ort. Billige, gut ausgebildete Arbeitskräfte (Ärzte! Ingenieure!) werden von der Peripherie in boomende Zentren „exportiert“. Das sinkende Lohnniveau in der Peripherie wirkt EU-weit als Lohndumping. Neue kreative Modelle der Superausbeutung inbegriffen: In Irland gibt es bereits zehntausendfach die „zero-hour contracts“: Beschäftigte, die 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche auf Abruf zur Verfügung stehen müssen, im Gegenzug aber nur 15 Stunden pro Woche schlecht bezahlte Arbeit garantiert bekommen. Jeder sechste lebt in diesem Land unter der Armutsgrenze – jeder sechste BESCHÄFTIGTE!
Die Rezeptur Austeritas dient allein der Spekulation, den Zinsgewinnen und der Profitmaximierung. Sie vergiftet Europa – sozial, moralisch und gesamtgesellschaftlich. Solidarität mit der griechischen Bevölkerung heißt auch, in ganz Europa die sozialen und demokratischen Standards zu verteidigen.