Bericht aus Athen über die Tage vor und nach dem Referendum von Winfried Wolf
[erscheint in lunapark21 – zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie, Ausgabe 30/ Sommer 2015, die heute in den Druck geht]

Dieses Ergebnis! Am Abend des Referendums, um 19 h, bin ich in den Redaktionsräumen von Avgi, der Tageszeitung von SYRIZA. Ein kurzes Gespräch mit Vassilis Moulopoulos, einem hoch angesehenen SYRIZA-Berater, zuvor Chefredakteur von To Vima, Kostís Nikolakakos, dem Chefredakteur dieser Zeitung, und Haris Golemis, dem Direktor der SYRIZA-nahen Nikos Poulanzas-Stiftung. Thema: Unsere Zeitung Faktencheck:HELLAS. Eine Griechin in der Runde spricht mich am Rande auf Deutsch an: Wie die Wahl wohl ausgehen werde – just in dieser Minute haben die Wahllokale geschlossen.[1] Einigermaßen kühn sage ich: „53,5 % Ochi“. Man lacht. Das wird – zu diesem Zeitpunkt – bereits als ein sehr gutes Ergebnis gesehen. Obgleich alle, die ich in den zwei Tagen am 4. und 5. Juli treffe, davon ausgehen, dass es seit Freitag eine Wende hin zum Ochi gab, wird doch weiterhin ein knapper Ausgang erwartet. Eine Stunde später – ich sitze in einem kleinen Restaurant und esse lecker zubereitetes „gemischtes griechisches Gemüse“ – ruft mich Dimitris Psarras direkt aus der EFSYN-Redaktion heraus an: „Wir kriegen ein Ergebnis mit zehn Prozent Vorsprung!“ Wie bitte? Wirklich!? Unfassbar! Irgendwie bin ich etwas zu laut. Von zwei Tischen aus kommen Fragen, ob ich Genaueres wisse. „60 % Ochi“, sage ich. Dann: Schreibe ich auf eine Rechnung. Zustimmung an den anderen Tischen. Gläser klirren. Ich bestelle ein Glas Weißwein. Der Wirt allerdings blickt betrübt: „More crisis – less tourists.“

Erpressung – und dennoch Allgegenwärtig ist das Gefühl, erpresst zu werden durch EU, Berliner Regierung und die Gläubiger – der IWF spielt aktuell kaum mehr eine Rolle in den Debatten. Noch am Vortag des Referendums veröffentlichte die britische Financial Times einen Bericht, wonach kurz nach dem Referendum alle Guthaben, die höher als 8000 Euro sind, um 30 % gekappt würden. „Bail-in“, wie es so etwas auf Zypern, wenn auch auf eine Bank beschränkt, gab. Die Regierung dementiert. Doch die Wirkung ist enorm. Die Putzfrau im Hotel hat am Sonntagvormittag Tränen in den Augen. Sie habe zwar nicht 8000, aber doch 3000 Euro gespart – ob die auch diese Frisur, den „hair cut“ bekämen? Sie fügt aber sogleich hinzu, sie werde in jedem Fall mit OCHI stimmen. Die führende griechische Tageszeitung Kathimerini – sie steht rechts und im Ja-Lager wie 75 Prozent der Massenmedien – führt an diesem Tag aus: Die Regierung habe Pläne für den Fall von sozialen Unruhen ausgearbeitet; Supermärkte sollten durch Polizeikräfte gesichert werden. „Aus der Luft gegriffen“, so die glaubwürdige Antwort der Regierung.

Natürlich beeinflusst all diese Panikmache die Menschen bei ihrer Wahl. Die Botschaft lautet: Mit einem „Nein“ wählt sich Griechenland „aus Europa hinaus“. Dann gibt es „Unruhen“ wie in einem Drittweltland.

Die meisten internationalen Medien und ohnehin die Schulz, Dijsselbloem, Juncker und Schäuble tun am Montag, dem Tag nach dem Referendum, kund: Das Ergebnis des Referendums ist Resultat von irgendeiner Art nationaltypischer Volksverblendung. Das mit der „Würde“, von der Tsipras in all seinen letzten Reden sprach, können sie schon gar nicht verstehen. Außer eben – Verblendung. „Inflationär“ würde das Wort verwandt, so die FAZ. Und dann steht dort im Leitartikel auf Seite 1, Ausgabe vom 6. Juli.: „Das Fluchen auf die EU-Kommission […] verdeckt nur nationale Faulheit und Inkompetenz.“ Auch wenn an dieser Stelle im Text Griechenland nicht explizit erwähnt wird, so wird der „kluge Kopf“ hinter dieser Zeitung diese Zeilen doch ausschließlich auf Griechenland beziehen und sie mit Schenkelklatschen goutieren.

All diese Herren – und die Dame im Kanzleramt und die Dame an der IWF-Spitze – machen sich keine Gedanken darüber, dass zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten die große Mehrheit der griechischen Bevölkerung in allen Regionen des Landes „Ochi“ sagt. Auch auf der Peloponnes – mit all der rechten Tradition, zurückreichend bis zum Bürgerkrieg. Auch auf den Inseln. Auch im Norden des Landes. Und in allen Städten: Ein mehrheitliches Nein. Mal mit 70, mal mit 60, mal mit nur 51 Prozent. Ein „Nein“ der Würde. Doch nicht ein rein „ideologisches Nein“, wie es im „Le Figaro“ am Tag nach dem historischen Referendum heißt. Dieses Nein war klar materiell untersetzt: als ein NEIN gegen weitere Rentenkürzungen. Als NEIN gegen eine nochmalige Mehrwertsteuererhöhung. Als NEIN gegen die Abschaffung der steuerlichen Erleichterungen für die Inseln. Als NEIN gegen neue und beschleunigte Privatisierungen.

Nirgendwo tauchen diese konkreten Positionen, um die es schließlich vor allem geht, auf. Und schon gar nicht taucht auf, welche konkreten Vorschläge die SYRIZA-geführte Regierung machte, um Geld anderswo, bei den Reichen, mit einer höheren Körperschaftssteuer, auf Basis eines wirtschaftlichen Aufschwungs und damit einem größeren Steueraufkommen auf- und einzutreiben.

Spaltung? Nein – neue Einheit! Am Tag nach dem Referendum, 6. Juli, gegen 14 Uhr, sitzen Dimitris Psarras und ich in der SYRIZA-Zentrale und warten auf ein Gespräch mit dem Generalsekretär von SYRIZA, Tassos Koronákis. Eine ältere Dame – eine Griechin – kommt auf mich zu und fragt: „Sind Sie Deutscher?“ Umgehend zeigt sie mir voller Empörung die Schlagzeile der heutigen Süddeutschen Zeitung. Diese lautet: „Referendum spaltet Griechenland“. Das ist nun wirklich dummdreist. Das Umgekehrte findet statt: Das Nein wirkt vereinheitlichend.[2] Natürlich ist es nicht repräsentativ, wenn ich feststelle, dass mich am Tag vor dem Referendum, am Tag des Referendums und am Tag danach rund ein Dutzend Leute erfreut darauf ansprechen, dass ich den orange-farbenen Ochi-Aufkleber trage. Vergleichbares hört man aber allerorten. Am Nachmittag des Referendumstags schreibt mir Dorothee Vakalis aus Thessaloniki wie folgt: „Lieber Winfried.[…] Wir alle hier sind sehr aufgeregt […] Ich hatte am Samstagmorgen beim Einkaufen das OCHI-Label aufgeklebt auf dem T-Shirt, ich wollte es zeigen!!! Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft  ich in der Nachbarschaft angesprochen wurde, von mir bekannten Leuten, mit denen ich jedoch noch nie ein politisches Wort gewechselt habe… Zwei junge Verkäuferinnen im Supermarkt haben mich mit Tränen umarmt und sich bedankt: Du als Deutsche! Mein Fischmann fing an: „Diese alten Cliquen… “ Auf jeden Fall hat die Abstimmung die Menschen mehr politisiert und vernetzt. Trotzdem, es wird sehr schwer werden…“

Was da kommt Am Abend nach dem Referendum gibt es auf dem Klavtimonos-Platz zunächst eine Kundgebung der SYRIZA-Leute. Die einzelnen Ergebnisse aus Städten und Regionen werden auf der Leinwand eingeblendet und bejubelt. Gegen 21 Uhr gibt es eine Demonstration von dort zum Syntagma-Platz, wo sich die oft älteren SYRIZA-Kader mit der überwiegend jugendlich geprägten Versammlung auf dem zentralen Platz der griechischen Hauptstadt verbinden. SYRIZA mit roten Fahnen. Auf dem Syntagma überwiegt das Blau-Weiß der griechischen Fahnen. Erneut sind es viele Tausend, die bis weit in den Morgen feiern. Der Verkehr wird gewissermaßen organisch lahmgelegt. Ein Durchkommen gibt es nur für Slalom fahrende Mopeds und Motorräder. Was mich völlig verblüfft: Es gibt kein wütendes Hupen, obgleich zum Beispiel viele Taxifahrer in der Menge stecken und richtig am Geld verdienen behindert werden. Und: Es gibt keinerlei Polizei-Präsenz. Dimitris: „In der ganzen Woche gab es keine Zusammenstöße. Obgleich manchmal auf ein und demselben Platz das Ja und das Nein aufeinanderprallte. Hier sind wir wirklich Europa. Von wegen Balkan.“

Inmitten des Freudentaumels über den Sieg des Ochi spricht mich ein alter, ärmlich gekleideter Mann am Rande des Syntagma-Platzes an. Er zeigt auf meinen orangenen Ochi-Aufkleber auf der Weste und sagt beschwörend: „Ihr dürft uns jetzt nicht allein lassen!“

Die Angst vor der ungewissen Zukunft haben so gut wie alle im Land. Zu Recht. Vor allem, weil diese Zukunft objektiv unsicher ist. Jedoch auch, weil die SYRIZA-Führung eigentlich keinen Plan für die notwendige Alternative hat.

Sissy, eine SYRIZA-Aktivistin, die ich am Tag vor dem Referendum, als sie mit drei anderen SYRIZA-Leuten Flugblätter an der Akropolis-Metro-Station verteilte, begleite, sagt an jenem Abend zu mir: „Egal, wie es morgen ausgeht. Es wird danach sehr, sehr hart werden. Und es wird besonders hart, wenn wir, wenn das Ochi, gewinnt.“ Sie müsse jetzt besonders heftig sparen für diese harten Zeiten.

Nachdem ich wieder zurück in Berlin bin und kurz mit Nikos Chilas über meine Eindrücke und die Zusammenarbeit zwischen Faktencheck:HELLAS und EFSYN spreche, sagt dieser: „Die Zusammenarbeit ist ganz ausgezeichnet. Aber das Papier [für die Tageszeitungen] reicht nur noch wenige Tage. Es gibt kein Geld mehr für den erforderlichen Import für Papier.“

Irgendwo in der Nähe des Omonia-Platzes zeigt eine riesige Häuserwand das Dürer-Gemälde der gefalteten Hände. Wie vom Himmel nach unten, auf das geschundene Land gerichtet. Irgendwie auch „eine andere Stimme aus Deutschland“.[3]

 

[1] Später stellt sich heraus: Die Frau arbeitet seit ein paar Jahren als Ärztin in Minden und ist zufällig gerade auf „Heimaturlaub“. FaktenCheck:HELLAS kennt sie noch nicht. Sie will das Blatt ab sofort in Minden verbreiten.

[2] Die Süddeutsche Zeitung gab es an diesem Tag in mehreren Varianten – je nach Redaktionsschluss. Die Ausgabe, die es in Athen an diesem Morgen gab (als „HF2“ gekennzeichnet), war wohl verfasst, als das Ergebnis noch nicht klar war. In der späteren, als „HF3“ gekennzeichneten Ausgabe, lautete dann die Hauptschlagzeile zwar „Griechen lehnen Sparkurs klar ab“ (was ja so auch nicht stimmt; sie lehnten einen spezifischen Kurs des Sparens auf dem Rücken der kleinen Leute ab). Doch auch in dieser Ausgabe steht: „Tsipras Referendum spaltet das Land“ (dort Seite 2).

[3] FaktenCheck:HELLAS hat in der griechischen Fassung die Unterzeile „Eine andere Stimme aus Deutschland“. Die deutsche Ausgabe und die französische und englische haben als Unterzeile „Solidarität mit der Bevölkerung in Griechenland“.