von Karl Heinz Roth

Um die Jahreswende 1945/46 fand in Paris eine Inter-Alliierte Reparationskonferenz statt, auf der Griechenland Kriegsentschädigungen im Umfang von 7,1 Milliarden US-Dollar zugesprochen wurden. Durch diesen Betrag sollte Griechenland in den Stand versetzt werden, die Folgen der deutschen Besatzungsherrschaft zu überwinden. Die Deutschen hatten Griechenland im April 1941 überfallen und in den folgenden dreieinhalb Okkupationsjahren schreckliche Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. Sie hatten über 1.0000 Ortschaften niedergebrannt, die Rohstoffressourcen geplündert, hohe Defizite im bilateralen Handelsverkehr aufgebaut und die Zentralbank zur Finanzierung ihrer Kriegführung im östlichen Mittelmeer und in Nordafrika gezwungen. Dadurch war es zu einer Hyperinflation mit einem extremen Anstieg der Lebensmittelpreise gekommen. Allein im Winter 1941/42 verhungerten 100.000 Menschen. Beim Rückzug im Herbst 1944 zerstörten die Deutschen drei Viertel der griechischen Handelsflotte und 80 Prozent des Straßen- und Schienennetzes.

Alle diese Schäden sollten in den folgenden Jahren durch eine Inter-Alliierte Reparations-Agentur (IARA) durch Demontagen und Warenlieferungen, durch die Abgabe von Schiffen der deutschen Handelsflotte und den Transfer eines Teils des deutschen Auslandsvermögens kompensiert werden. Der dabei in Aussicht genommene Gegenwert von 7,1 Milliarden US-Dollar bei Preisstand 1938 beläuft sich – unter Berücksichtigung der Inflation und der Wechselkurs-Relationen zwischen Reichsmark, D-Mark und Euro – heute auf mindestens 90 Milliarden Euro.

Bis heute haben sich die griechischen Regierungen immer wieder für die Begleichung der deutschen Reparationsschulden eingesetzt – aber weitgehend erfolglos. Bis Ende der 1950er Jahre erhielt Griechenland aus dem Reparationspool der IARA nur Lieferungen im Gegenwert von 25 Millionen US-Dollar. 1960 folgten weitere 115 Millionen D-Mark im Rahmen einer sogenannten Globalentschädigung für NS-Opfer, hinzu kamen 2001 nochmals 20 Millionen Euro zur Entschädigung griechischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die in Nazi-Deutschland ausgebeutet worden waren. Das war aber nur ein Bruchteil der offenen Reparationsschuld. Alle Versuche der griechischen Seite, hier Abhilfe zu schaffen, stießen entweder ins Leere oder wurden mit undiplomatischer Härte zurückgewiesen.

Dauerverweis: „Erst mit einem Friedensvertrag…“

Die deutsche Verweigerungshaltung Griechenland gegenüber war kein Einzelfall. Seit Beginn der 1950er Jahre setzte die bundesdeutsche Machtelite alle Hebel in Bewegung, um die immer wieder aufkommenden Reparationsforderungen ins Leere laufen zu lassen. Als die Bundesregierung im Februar 1953 mit den Westmächten – USA, Großbritannien und Frankreich – das Londoner Schuldenabkommen schloss, gelang es ihr vor allem mit US-amerikanischer Unterstützung, die Reparationsfrage auszuklammern und auf einen späteren Friedensvertrag zu vertagen. Damit war es ihr in einem ersten Schritt gelungen, die westlichen Großmächte auf ihre Seite zu bringen und die „kleinen Alliierten“ – darunter auch Griechenland – zu isolieren. Der nächste Schritt folgte dann ein Jahr später, als die Westmächte mit der BRD einen Überleitungsvertrag zur Erlangung westdeutscher Souveränitätsrechte abschlossen. Erneut wurde die Reparationsfrage auf einen späteren Friedensvertrag vertagt. Parallel dazu schränkten die Westmächte aber auch ihre Reparationsansprüche ein und verzichteten auf weitere Demontagen. Mittelbar waren davon auch die „kleinen Alliierten“ betroffen, obwohl die mit dem Vertragswerk selbst nicht zu tun hatten.

Auf der Basis dieser ungleichen, die „kleinen Alliierten“ benachteiligenden Verträge von 1953 und 1954 erreichte die Bundesregierung Ende der 1950er Jahre den vorläufigen Stopp der Reparationsleistungen. Die IARA wurde aufgelöst, nachdem die Sowjetunion und Polen ihrerseits schon im August 1953 auf die Fortsetzung ihrer separat betriebenen Reparationen aus der DDR verzichtet hatten. Da aber die Ansprüche der „kleinen Reparationsgläubiger“ – neben Griechenland vor allem Jugoslawien, die Niederlande und andere europäische Länder – damit keineswegs vom Tisch waren, verlegte sich die westdeutsche politische Elite jetzt auf eine Hinhaltetaktik. Sie verwies alle noch ausstehenden Reparationsforderungen auf den künftigen Friedensvertrag, dessen Abschluss sie zugleich von der „Wiedervereinigung“ abhängig machte. Im Verlauf der 1960er Jahre rückte diese Perspektive jedoch in weite Ferne. Damit schien auch die Reparationsfrage auf den Sankt Nimmerleinstag vertagt zu sein.

Was sollte aber geschehen, wenn genau dieses Ereignis – der Zusammenschluss der BRD und der DDR und ein abschließender Friedensvertrag auf die Tagesordnung gesetzt würde? Eine solche Perspektive tauchte erstmals 1969/70 auf, als die Bundesregierung eine Sicherheits- und Friedensofferte der Warschauer Paktstaaten mit ihrer „Neuen Ostpolitik“ beantwortete. Im Fall einer Annäherung der beiden Machtblöcke wäre die Reparationsfrage unweigerlich auf den Tisch gekommen. Just zu dieser Thematik formulierte der deutsche Botschafter in Luxemburg im April 1969 in einem Brief an das Auswärtige Amt seine Überlegungen und Fragen (Dokument Nr.1). Die Reparationsexperten des BRD-Außenministeriums erteilten ihm eine aufschlussreiche Antwort (Dokument Nr. 2). Sie beruhigten den Luxemburger Botschafter zunächst mit dem Hinweis, dass die Voraussetzungen für einen Friedensvertrag auf absehbare Zeit nicht gegeben seien, dass man also die in Sachen Reparationsfrage „schlafenden Hunde nicht wecken“ sollte. Käme es aber unvorhergesehener Weise trotzdem zu diesem Ereignis, dann werde man den wieder aktiv werdenden Reparationsgläubigern gegenüber erstens eine entsprechende Gegenrechnung aufmachen und die Gebietsverluste und Vertreibungen aus den Ostgebieten ins Spiel bringen, zweitens auf den seitens der vier alliierten Großmächte ausgesprochenen Reparationsverzicht rekurrieren und diese drittens gegen die kleineren Reparationsgläubiger ausspielen.

„Kommt die Wiedervereinigung aber doch, ist das Thema verjährt“

Als sich im Kontext der osteuropäischen Umbrüche von 1989/90 der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik abzeichnete, wurde es ernst für die deutschen Reparationsexperten. Denn nun kam just auf sie zu, womit sie die Griechen, Jugoslawen, Italiener, Niederländer, Belgier und Norweger jahrzehntelang vertröstet hatten: Der Friedensvertrag mit den alliierten Siegermächten – und damit auch die abschließende Klärung der Reparationsfrage. Wie wir einer Vorlage des Kanzlerberaters Horst Teltschik an Kohl vom März 1990 entnehmen können, schworen sie den Bundeskanzler und die gesamte Führungsgruppe der politischen Klasse auf eine bemerkenswerte Sprachregelung ein (Dokument Nr. 3): Sie verwiesen erstens darauf, dass die BRD bislang nur Absichtserklärungen zur Reparationsfrage abgegeben, aber noch keinen einzigen konkreten Vertrag unterzeichnet hatte. Zweitens machten sie klar, dass in den nun anstehenden Verhandlungen mit den alliierten Siegermächten ein Abkommen durchgesetzt werden musste, das mit einem Friedensvertrag nichts zu tun hatte, weil ein Friedensvertrag unweigerlich eine abschließende Reparationsvereinbarung einschloss. Drittens konnte man ja darauf hinweisen, dass sich die Reparationsfrage aufgrund der in den vergangenen Jahrzehnten erbrachten Entschädigungsleistungen, durch die Verzichtserklärungen der großen Siegermächte und nicht zuletzt durch den Zeitfaktor („45 Jahre nach Kriegsende“) „de facto erledigt“ habe.

Wie wir inzwischen wissen, haben sich die deutschen Verhandlungspartner des Zwei-Plus-Vier-Vertrags exakt an die Vorgaben ihrer Experten aus der Ministerialbürokratie gehalten. In einem ersten Schritt brachten sie die „amerikanischen Freunde“ – Bush und Baker – und danach auch Großbritannien und Frankreich auf ihre Seite und erklärten gemeinsam mit ihnen den Begriff „Friedensvertrag“ zum Tabuthema. Gegenüber den sich monatelang sträubenden sowjetischen und polnischen Verhandlungspartnern spielten sie die Karte ihrer bislang schon erbrachten Entschädigungszahlungen und des „Verjährungsfaktor“ und erzwangen schließlich ihren Rückzieher, indem sie die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie implizit von der Absetzung der Reparationsfrage von der Traktandenliste abhängig machten. Gegenüber den „kleinen Alliierten“ – insbesondere Jugoslawien, Griechenland und Italien – hatten sie dagegen leichtes Spiel: Sie entzogen ihnen ihr Mitspracherecht, indem sie sie einfach vom Verhandlungstisch fernhielten.

Mit der Ratifikation des Zwei-plus-Vier-Vertrags einen Tag vor dem DDR-Anschluss schien die Reparationsfrage tatsächlich „de facto erledigt“ zu sein. Sie war es indessen keineswegs aus völkerrechtlicher Perspektive. Der De-facto-Friedensvertrag vom 2. Oktober 1990 war für Griechenland oder Jugoslawien genauso wenig bindend wie der 1954er Überleitungsvertrag. Ihre Reparationsansprüche bestanden uneingeschränkt weiter. Jugoslawien und Griechenland haben sie auch danach immer wieder geltend gemacht: Jugoslawien bis zum Untergang der Jugoslawischen Föderation im Jahr 1999 und die griechischen Regierungen bis heute. Ihrer Hartnäckigkeit haben wir es zu danken, dass der zynische Umgang der deutschen Machtelite mit der Reparationsfrage endlich zum Skandal wird.

Wer heute immer noch die deutsche Reparationsschuld ablehnt, sollte sich weitere Krokodilstränen in Sachen Erinnerungskultur ersparen.

Karl Heinz Roth lebt in Bremen. Er ist Historiker, Mediziner und Vorstandsmitglied der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Aus: FaktenCheck:HELLAS \\ Ausgabe 1 \\ April 2015