Aus: FaktenCheck:HELLAS \\ Ausgabe 1 \\ April 2015
Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis verglich den Umgang der Kreditgeber mit der Folterpraxis des Waterboarding: „Griechenland wird sprichwörtlich unter Wasser gedrückt. Kurz vor dem Herzstillstand wird uns gestattet, ein paar Atemzüge zu nehmen. Dann drückt man uns wieder unter Wasser. Und alles geht von vorne los.“
Die Beschreibung trifft zu. Diese Folterpraxis wird gegenüber Griechenland verstärkt angewandt, seit in dem Land eine neue, demokratisch gewählte Regierung amtiert. Obgleich aus einem früher beschlossenen Kreditprogramm noch eine Tranche in Höhe von 7,2 Milliarden Euro offen steht, die „eigentlich“ Anfang des Jahres hätte überwiesen werden können, unterblieb die Auszahlung der Summe. Stattdessen fordern die EU und der Internationale Währungsfonds von der griechischen Regierung immer neue „Listen“ mit „Reformen“. In der Öffentlichkeit wird der Eindruck erweckt, die griechische Regierung wolle schlicht weiteres EU-Geld – und dies, um ungerechtfertigte soziale Geschenke zu verteilen. O-Ton Bild vom 27. Januar: „Das alles sollen die Griechen kriegen – 1000 Euro für Putzfrauen (halbtags)!“
Nun legt die griechische Regierung unter dem erpresserischen Druck durchaus solche „Listen“ vor; die Athener Tageszeitung Kathimerini schrieb hierzu am 31. März über die neue Athener „Liste“: „Auf den 17 Seiten der griechischen Vorschläge sowie in den 35 Begleitseiten mit Zusatzdaten sind exakt kostenberechnete Maßnahmen enthalten.“ Doch der Euro-Group und hier insbesondere dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble gehen die Vorschläge nicht weit genug. Vor allem soll verhindert werden, dass die griechische Regierung einen Kurs stoppt, mit dem auf Kosten der Armen und der durchschnittlichen Bevölkerung gespart und der fortgesetzte Ausverkauf von öffentlichem Vermögen betrieben wird.
Und so drängen die EU-Folterspezialisten konkret darauf, dass die Einkommen von Hunderttausenden griechischen Rentnerinnen und Rentnern nochmals gekürzt werden (durch Streichung der sog. Zusatzrenten um bis zu 90 Prozent), dass die Mehrwertsteuer griechenlandweit ein weiteres Mal erhöht wird und dass 14 Regionalflughäfen (an den deutschen Flughafenbetreiber Fraport) verkauft werden. Wenn bei diesen Verhandlungen die griechische Seite einzelne Forderungen zur „red line“ – als nicht verhandelbar – erklärt, wenn sie beispielsweise eine griechenlandweite Mehrwertsteuer-Erhöhung bei Medikamenten und Lebensmitteln strikt ablehnt, dann brechen die Unterhändler der EU die Gespräche ab. Und es dringen neue Lügen an die Öffentlichkeit – etwa die, wonach die Regierungsvertreter aus Athen „Texte abgefasst nur in griechischer Sprache“ vorgelegt hätten.
Schon möglich, dass die Kreditgeber in den nächsten Tagen – „kurz vor dem Herzstillstand“ – gestatten, dass das Land und seine Bevölkerung „ein paar Atemzüge“ nehmen können. Doch die Folterpraxis wird fortgesetzt. Wie beim physischen Waterboarding ist beim Kredit-basierten Waterboarding erforderlich, dass das Opfer sich in Gefangenschaft befindet. Im ersten Fall in einem CIA-Gefängnis. Im letztgenannten Fall in einem Kredit-Gefängnis, im Mittelalter auch Schuldenturm genannt. Konkret: Im April muss Griechenland weitere 0,7 Milliarden Euro an Zins- und Tilgungszahlungen an seine Gläubiger bezahlen. Im Mai sind es dann 0,9 Milliarden. Spätestens in der Hitze des griechischen Sommers, in den Monaten Juni, Juli und August, beginnt die Periode verschärfter Kredit-Folter: im Juni sind 1,9 Milliarden, im Juli 4,8 Milliarden und im August nochmals 3,7 Milliarden Euro fällig. Allein im Zeitraum April bis August müssen demnach 12 Milliarden Euro an Zahlungen geleistet werden – deutlich mehr, als die oben erwähnte gesamte Tranche ausmacht.
Es ist also klar: Griechenland kann all diese Zins- und Tilgungszahlungen nicht leisten. Das wissen alle Leute vom Fach. Einige wenige sagen dies auch offen. So stellte der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi fest: „Jeder weiß, dass Griechenland seine Schulden niemals zurückzahlen kann.“ (Tagesspiegel vom 13. Februar 2015). All dies ist nicht von der aktuellen griechischen Regierung, sondern von den Vorgänger-Regierungen in Athen und von den Waterboarding-Spezialisten der EU und des IWF, die Griechenland seit 2010 die neuen gigantischen Kredite aufzwangen, zu verantworten (siehe S. 2). Griechenland braucht also, wie dies die neue Regierung in Athen sofort nach ihrem Amtsantritt erklärte, einen radikalen Schuldenschnitt.
Einen Unterschied zwischen der physischen Folterpraxis und der Kredit-Folterpraxis gibt es jedoch. Das Waterboarding, wie es die US-Folterspezialisten in Guantánamo und in ihren geheimen Gefängnissen in Europa, so in Polen, angewandt haben, brachte nachweislich keine neuen Erkenntnisse. Diese Folterpraxis – die im übrigen früher von der Heiligen Inquisition, dann von der Gestapo und nicht zuletzt von den Roten Khmer in Kambodscha angewandt wurde – ist Teil der Brutalisierung der Gesellschaft.
Die Kredit-Folterpraxis des Waterboardings ist auch Teil der Brutalisierung der globalisierten Weltwirtschaft. Sie ist jedoch zugleich äußerst effizient. Es geht den Kreditgebern nämlich gar nicht um eine Rückzahlung der Schulden. Es geht um die Aufrechterhaltung des bestehenden Zustands. Es geht um „ein paar Atemzüge“ – auf dass die Prozedur immer von vorne beginnen und immer neues Geld und Gut aus dem Land gepresst werden kann. Tatsächlich bezahlte Griechenland allein seit 1991 640 Milliarden Euro an Zinsen, wovon drei Viertel an ausländische Kreditgeber ging. Das ist das Doppelte dessen, was die gesamte Schuld Griechenlands ausmacht.
Es ist notwendig, die Öffentlichkeit über die reale Situation in Griechenland aufzuklären und eine breite Unterstützung für die Forderungen der griechischen Zivilgesellschaft und der Regierung in Athen zu gewinnen. Der untragbare Zustand fortgesetzter Folter gegenüber der Bevölkerung in Griechenland muss beendet werden.
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