Sebastian Gerhardt in: FaktenCheck:HELLAS Nr. 2, Mai 2015
Mitte Februar 2015, auf dem Höhepunkt des aktuellen Tauziehens um die Politik der Eurogruppe gegenüber Griechenland, legten vier der fünf Mitglieder des deutschen „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ eine politische Stellungnahme vor. Ihre Botschaft: Ein Grexit ist machbar. Die Professoren Lars Feld, Christoph Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland wie der Generalsekretär des Rates, Benjamin Weigert zeigen sich sicher: „Im Jahr 2010 wäre ein Grexit, also ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro-Raum und die Neueinführung einer nationalen Währung, mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Ansteckungseffekten auf die internationalen Finanzmärkte verbunden gewesen, welche die anderen Mitgliedstaaten erheblich in Mitleidenschaft gezogen hätten. … Heute stellen sich die Umstände allerdings ganz anders dar.“ Nur Peter Bofinger als der letzte der Mohikaner, pardon: Keynesianer, schloss sich von dieser gemeinsamen Stellungnahme seiner Kollegen aus.
Im Herbst 2011 hatte der damalige, kaum weniger neoliberale Sachverständigenrat noch eine andere Position eingenommen: In ihrem damaligen Jahresgutachten schlugen die „Wirtschaftsweisen“ ein Modell einer teilweisen Vergemeinschaftung der europäischen Staatsschulden vor. Trotz der unverkennbaren Absicht, auf diese Weise die Austeritätspolitik zur offiziellen Norm aller teilnehmenden Länder zu erheben, fand der Vorschlag Beifall auch von linksliberaler Seite. Der französische Ökonom Thomas Piketty („Das Kapital des 21. Jahrhunderts“) lobt das Gutachten noch heute – wenn er sich auch auf eine Diskussion des Kleingedruckten nicht einlässt.
2011 zerbrachen sich die deutschen Wirtschaftsprofessoren den Kopf über weitgehende politische Veränderungen zum Zwecke einer gemeinsamen kapitalistischen Lösung der Eurokrise. Heute erklären sie schlicht, Griechenland könne gehen. Eine Grexit „könnte die Glaubwürdigkeit des heutigen institutionellen Rahmenwerks stärken und so die Integrität des Euro-Raums festigen, statt außerhalb Griechenlands Chaos auszulösen.“ Auch wenn ihre Vorschläge eher auf die Öffentlichkeit zielen und nicht die deutsche Regierungspolitik vorschreiben, die Frage lohnt schon: Was hat sich seit 2011 geändert?
Die Professoren verweisen auf Veränderungen in den finanzpolitischen Strukturen, den „Europäischen Rettungsschirm“, die EZB-Politik und vieles andere mehr. Spannend ist, worüber sie nicht reden. Sie reden nicht über den Saldo der Leistungsbilanz, das aktuelle Abrechnungsergebnis der grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungen. Dabei diente ihnen das schlechte Abschneiden griechischer Unternehmen in der internationalen Konkurrenz zuvor als Beweis, dass die Katastrophe vor Beginn der Troika-Politik schon längst eingetreten war: „Die Griechen´“ hätten „über ihre Verhältnisse gelebt“ – sie hätten mehr verbraucht als produziert! Fehlt nur noch, dass die Professoren das Märchen von der Fiedelgrille und dem Maulwurf drucken und nach Athen schicken lassen.
Von Seiten keynesianischer Ökonomen und griechischer Politiker – auch konservativer, wie im Fall des Staatspräsidenten Prokopis Pavlopoulos – wird die Geschichte andersherum erzählt. Die deutsche Wirtschaft habe mit Lohndumping und fehlender Binnennachfrage ihre Probleme auf den Weltmarkt exportiert. Die deutschen Überschüsse müssten ja anderswo zu Defiziten führen.
Das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz vollständig. Denn die deutschen Löhne liegen trotz des Drucks von Hartz IV immer noch deutlich über dem Niveau der meisten anderen EU-Länder. Erfolgreiche Ausbeutung senkt die Produktionskosten nicht nur durch Lohndruck, sondern ebenso durch moderne Technik und durch Arbeitshetze – höflicher „Intensivierung“ genannt. Auf diese Weise kommt der Erfolg des deutschen Kapitals zustande. Solange sich an den sozialen Kräfteverhältnissen hierzulande nichts ändert, wird das auch weiter gehen.
Tabelle: Saldo der Leistungsbilanz in Milliarden Euro
2006 | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 | 2013 | 2014 | 2007-2010 | 2011-2014 | |
Griechenland | -23,8 | -32,6 | -34,8 | -25,8 | -22,5 | -20,6 | -4,6 | 1,1 | 1,6 | -115,7 | -22,5 |
Portugal | -17,7 | -17,1 | -21,7 | -18,3 | -18,3 | -10,6 | -3,5 | 2,4 | 1 | -75,4 | -10,7 |
Irland | -10,6 | -18 | -10,2 | -3,8 | 1,8 | 2 | 7,3 | 7,7 | 11,5 | -30,2 | 28,5 |
Spanien | -90,6 | -104,3 | -103,2 | -46,2 | -42,4 | -34 | -3 | 15,1 | 8,5 | -296,1 | -13,4 |
Italien | -23,9 | -22,8 | -46,3 | -30,4 | -55,7 | -50,4 | -8,2 | 15 | 31,2 | -155,2 | -12,4 |
Frankreich | 0,7 | -5,8 | -19 | -16 | -16,7 | -21,2 | -32,2 | -27,7 | -21,2 | -57,5 | -102,3 |
Deutschland | 138,1 | 173,1 | 147,9 | 143,2 | 146,7 | 164,5 | 187,3 | 182 | 219,7 | 610,9 | 753,5 |
Österreich | 8,8 | 10,8 | 13,2 | 7,5 | 8,4 | 5 | 4,7 | 3 | 2,6 | 39,9 | 15,3 |
Niederlande | 50,7 | 38,4 | 25,5 | 34 | 47,5 | 56,8 | 70,5 | 70,4 | 67,5 | 145,4 | 265,2 |
Summe | 31,7 | 21,7 | -48,6 | 44,2 | 48,8 | 91,5 | 218,3 | 269 | 322,4 | 66,1 | 901,2 |
Die Daten zur Leistungsbilanz ausgewählter EU-Länder (Tabelle) zeigen das Ergebnis: Ja, schon vor der Krise war die Macht des nordwestlichen Blocks in der EU an den Überschüssen Deutschlands, Österreichs und der Niederlande klar erkennbar. Und die Defizite Griechenlands oder Spaniens in jenen Jahren sind die Zeichen der wachsenden Verschuldung der Südländer, die anders ihre Importe nicht finanzieren können.
Doch die Tabelle zeigt noch etwas: In der Krise seit 2008 gingen die deutschen Überschüsse im Außenhandel nicht etwa zurück, sondern sie stiegen noch an! Und das, obwohl die Sparpolitik in Spanien, Griechenland und in den anderen Krisenländern nicht nur zu offener Not bei großen Teilen der Bevölkerung führte, sondern am Ende auch die Handelsbilanzen „drehte“ und einen Überschuss im Außenhandel bewirkte! Die Zusammenfassung für die Jahre 2007 bis 2010 zeigt noch das alte Muster. Aber zwischen 2011 und 2014 erreichte die EU insgesamt einen Überschuss im Außenhandel. Die deutschen Überschüsse sind nicht einfach das Gegenstück der griechischen Defizite: Immer schon wurden sie wesentlich im Handel mit vielen anderen Ländern erreicht. Und wenn die einen Kunden nicht mehr zahlungsfähig sind, sucht man sich eben andere.
Deshalb sind deutsche Wirtschaftsprofessoren heute so viel selbstbewusster als 2011. Sie sehen Alternativen zu einer Einigung mit Griechenland. Böse Materialisten könnten sagen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Etwas vereinfacht, aber nur etwas: Die Professoren des Sachverständigenrates wissen heute, dass der Wechsel des deutschen Kapitals auf andere Märkte geklappt hat, vor allem nach Asien. Deshalb sehen sie keinen Grund, einer linken Regierung in Athen irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
Für uns in Deutschland bedeutet diese Analyse, dass wir einen alten Satz neu begreifen müssen: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Auch wenn man sich mit dieser Einsicht sicher nicht bei allen beliebt macht.