Sie kennen sie. Sie lesen darüber fast tagtäglich. Oder Sie hören sie im Büro, auf der Straße, im Betrieb, in der Kneipe. Diese Stammtisch-Parolen – über Griechenland, über „die Griechen“, über die deutschen „Hilfen“. FaktenCheck:HELLAS lässt im Folgenden fünf dieser Parolen Revue passieren – und unterzieht diese einem FaktenCheck: (1) „Die Regierung in Griechenland ist für das heruntergewirtschaftete Land verantwortlich“ // (2) „Griechenland erhielt mehr als 250 Milliarden Euro an Hilfen – irgendwann muss da Schluss sein“ // (3) „Was die Griechen in ihrem Land konkret machen, das hat nichts mit uns zu tun“ // (4) „Griechenland war auf gutem Weg – und jetzt diese Chaoten-Regierung von Halbstarken“ // (5) „Griechenland ist halt ein Sonderfall“. Im einzelnen.
Stammtisch-Parole (1): „Die Regierung in Griechenland handelt verantwortungslos. Sie ist für eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise verantwortlich.“
FaktenCheck:HELLAS // Bis Ende Januar 2015 regierte in Griechenland eine Regierung der großen Koalition. Ihr Premierminister Andonis Samaras gehört der konservativen Partei Nea Demokratia an. Diese Partei ist die Schwesterpartei von CDU/CSU. Der Koalitionspartner von Samaras war die PASOK-Partei, die der SPD nahesteht. Vor Samaras und im Zeitraum November 2011 bis Mai 2012 stand an der Spitze der Regierung in Athen Loukas Papademos – ein Banker, der 2002 bis 2010 Vizepräsident der Europäischen Zentralbank (EZB) war. Papademos war vor diesem EZB-Job Chef der griechischen Notenbank. Diese letztgenannte Funktion hatte er inne, als Griechenland in die Eurozone aufgenommen und die Drachme durch den Euro ersetzt wurde. Papademos war also maßgeblich für die Manipulationen mitverantwortlich, mit denen die griechische Staatsschuld bei der Aufnahme Griechenlands in die Eurozone künstlich herunter gerechnet wurde. Vor Papademos wiederum regierte in Athen die PASOK-Partei allein mit dem Premier Giorgos Papandreou.
Es gab also seit Ausbruch der neuen Krise in Griechenland in Athen immer Regierungen, die eng mit der deutschen politischen Klasse und mit den Parteien, die die Regierungen in Berlin trugen, verbunden waren. Diese Verbundenheit mit den Kreisen, die in Deutschland das Sagen haben, ging äußerst weit. Als Papandreou es im November 2011 wagte, einen Volksentscheid über das erste Troika-Memorandum und damit über die Austeritätspolitik, die von der EU und dem IWF verordnet worden war, anzukündigen, wurde er binnen weniger Tage aus dem Amt gefegt. An seine Stelle trat, wie bereits erwähnt, der „Technokrat“ und Banker Papademos. Dies Regierungswechsel erfolgte ferngesteuert – ohne Wahl. Er war eindeutig von Berlin aus gesteuert, wobei die deutsche Regierung damals von der französischen Führung unter Sarkozy unterstützt wurde.
Es gab in all den Jahren in Berlin und Brüssel immer wieder Lob dafür, dass die jeweiligen Regierungen in Athen eine „gute Politik“ machten, dass man „auf gutem Weg“ sei. Siehe unten die Stammtisch-Parole vier.
Bilanz: Es ist unter diesen Bedingungen schlicht unhaltbar, wenn für die Krise in Griechenland eine Regierung verantwortlich gemacht wird, die erst seit wenigen Wochen im Amt ist und deren Personal nie zuvor etwas mit der Politik zu tun hatte, die in Athen gemacht wurde.
Stammtisch-Parole (2): „Griechenland erhielt Milliarden-Hilfen. Irgendwann ist Schicht.“
FaktenCheck:Hellas // Die sogenannten Hilfsgelder von derzeit rund 240 Milliarden Euro kamen nie bei der griechischen Bevölkerung an. Mindestens 80 Prozent – andere Analysen kommen auf 90 Prozent – davon flossen an deutsche, französische, an andere europäische und auch an griechische Banken.[1] Bei der Bevölkerung kam das Gegenteil von „Hilfe“ an: Da diese Kredite an die Auflagen der Troika mit all den Einschnitten u.a. im sozialen Bereich gekoppelt waren, sind die massiv gestiegene Arbeitslosigkeit und das verbreitete Elend in Griechenland eine direkte Folge der neuen Kredite (siehe Stammtisch-Argument 4).
Bilanz: Bei den „Hilfen“ für Griechenland handelt es sich wie bei allen „Hilfen“ dieser Art, die es seit der Wirtschaftskrise 2008 gab, vor allem um Hilfen für den Bankensektor. Faule Kredite privater Banken werden umgerubelt in öffentliche Schulden.
Stammtisch-Parole (3): „Die konkrete Politik vor Ort in Griechenland ist allein Sache der griechischen Regierungen. Wenn es da Hunger und Elend gibt, dann hat das nichts mit den Hilfspaketen zu tun.“
FaktenCheck:HELLAS // Tatsächlich schrieb die Troika, also die EU, vertreten durch EU-Kommission und EZB, und der IWF, in ihren „Memoranden“ jeweils bis ins Detail vor, wie und wo in Griechenland zu „sparen“, in welcher konkreten Form der Sozialstaat abzubauen sei. Siehe die Beispiele, die Nikos Chilas in seinem Artikel auf Seite 3 nennt. Siehe die aktuellen Beispiele, die auf Seite 1 hinsichtlich der neuen EU-Forderungen genannt werden. Vergleichbares gilt auch für die deutsche Politik. Als beispielsweise am 27. Februar 2012 im Deutschen Bundestag ein neues „Hilfspaket für Griechenland“ verabschiedet wurde, da war der entsprechende Regierungsantrag, den der Bundestag am Ende mehrheitlich verabschiedete, mit einem Dokument untersetzt, in dem es u.a. heißt: „Notwendige Maßnahmen [der griechischen Regierung]: Kürzung der Aufwendungen für Arzneimittel um mindestens 1076 Mio Euro im Jahr 2012.“ In dem Text werden über 11 Seiten hinweg und in Tabellenform weitere extreme Sparmaßnahmen im Sozialbereich im Detail aufgelistet. Diese werden ausdrücklich als Voraussetzungen dafür bezeichnet, dass die Kredite tatsächlich ausgezahlt werden.
Bilanz: Die EU und der IWF sind direkt verantwortlich für das soziale Elend, für die massiv gestiegene Säuglings- und Kindersterblichkeit, für die hohe Selbstmordrate, für die Tatsache, dass ein Drittel der griechischen Bevölkerung nicht mehr krankenversichert ist, für den Umstand, dass bis zu 300.000 Menschen von der Stromzufuhr abgeschnitten wurden, für den Umstand, dass Hunderttausenden Schulkindern und Studierenden kein Lernmaterial zur Verfügung gestellt werden kann, für die Tragödie, dass Jahr für Jahr Zehntausende Griechinnen und Griechen das Land verlassen…. und so weiter und so fort.
Stammtisch-Parole (4): „Griechenland war doch auf gutem Weg – und dann kommt diese Laienspielschar in Athen an die Regierung und stoppt den Reformprozess.“
FaktenCheck:HELLAS // Das Gegenteil ist der Fall. Griechenland befand sich bis zum Jahr 2009 auf einem holprigen Weg. Das Land wurde ab dem Jahr 2010 in eine Schussfahrt Richtung Abgrund gestoßen. Dies geschah als direkte Folge der Auflagen von EU und Troika. Die Grunddaten, die dies belegen: Die Schuldenquote Griechenlands lag 2009 offiziell bei 105 Prozent oder – wenn die Manipulationen voll berücksichtigt werden – bei 110 Prozent des BIP. Diese Quote liegt heute bei 178 Prozent. Das BIP fiel wie folgt: 2009: – 4,4%; 2010: – 5,4%; 2011: – 8,9 %; 2012: – 6,6 %; 2013: – 3,9 %; 2014: 0 %. Die Arbeitslosenquote stieg seit 2009 auf das Zweieinhalbfache.
Bilanz: Der wirtschaftliche und soziale Abstieg des Landes begann vor allem ab dem Zeitpunkt, als die Troika faktisch die Kontrolle über die Politik in Griechenland in die Hand nahm. Sie bzw. ihre Auftraggeber EU und IWF behaupteten Jahr für Jahr, dass man „auf dem Weg der Besserung“ sei. So hieß es beispielsweise in der Erklärung der „Euro-Gruppe“ – der Finanzminister der Euro-Zone – vom 21. Februar 2012: „Diese Beiträge [neue „Reformen“ usw.; d. FCH-Red.] werden sicherstellen, dass die griechische Schuldenquote kontinuierlich zurückgeführt und bis 2020 bei 120% des BIP liegen wird.“ Wohlgemerkt: Diese Quote stieg weiter und liegt heute bei knapp 180 Prozent. Es war also stets das Gegenteil der Fall.
Stammtisch-Parole (5) „Griechenland ist ein Sonderfall. Da passt dann auch eine besondere Behandlung.“
FaktenCheck:HELLAS // 2010 konnte man es tatsächlich so sehen: Griechenland als „Sonderfall“. Seither gab es jedoch den „Sonderfall Portugal“. Den „Sonderfall Irland“. Den „Sonderfall Spanien“. Den „Sonderfall Zypern“. Und es spricht vieles dafür, dass es in wenigen Monaten den „Sonderfall Italien“ geben wird. Es überzeugt nicht, von „Sonderfällen“ zu reden, wenn heute bereits fünf Eurozonen-Länder in vergleichbare Strukturkrisen abgerutscht sind und wenn sich ein Schwergewicht wie Italien auf der schiefen Ebene in eine solche Krise befindet. Offensichtlich wird der „Sonderfall Griechenland“ zum „Normalfall Strukturkrise Peripherie“ und möglicherweise sogar zum „Normalall Eurozonen-Krise“. Siehe ausführlich Seite 6.
Bilanz: Offensichtlich gibt es in der Eurozone eine innere Logik, die diejenigen Länder, die wirtschaftlich weniger stark sind, immer schwächer macht und diese immer mehr in die Krise und in soziales Elend stößt. Und es muss in dieser Eurozone eine innere Logik geben, die parallel dazu führt, dass die wirtschaftlich starken Länder, an deren Spitze Deutschland, fortgesetzt stärker werden. Diese Logik widerspricht aber sozialen Grundsätzen und dem Gebot, die Würde der Menschen zu respektieren.
[1] Im einzelnen: Attac Österreich hat sich die Mühe gemacht, die verschlungenen Wege der „Hilfen“ konkret zu verfolgen: Von den ursprünglich 207 Milliarden an „Hilfen“, die seit Mai 2010 in den vier „Memoranden“ vereinbart worden sind (inzwischen sind es 240 Milliarden), wurden 55 Milliarden für die Rückzahlung fällig gewordener Staatsanleihen, 11 Milliarden für den Rückkauf alter Schulden verwendet; mit 58 Milliarden Euro wurde das Eigenkapital griechischer Banken aufgestockt – nachdem es durch Kapitalflucht der Reichen ins Ausland kräftig ausgezehrt worden war. Mit 35 Milliarden wurde den Banken und „Investmentfonds“ der Welt der Schuldenschnitt des Jahres 2012 schmackhaft gemacht – nachdem sie vorher angesichts von Zinsen bis 35 Prozent einen kräftigen Reibach gemacht hatten. Die Gesamtzahlungen Griechenlands für Zinsen und Tilgung dürften sich für die vergangenen 20 Jahre auf über eine Billion Dollar belaufen – das Land wurde von den Gläubigern also kräftig ausgenommen.