von Nikos Chilas

Wenn es Nacht wird in Athen, durchdringt die Dunkelheit die Metropole. Richtig beleuchtet wird nur noch das Zentrum, nur ein wenig entfernt sind die Straßenbeleuchtungen zumeist ausgeschaltet. Auch die Messogion-Allee, eine der Hauptadern der griechischen Hauptstadt, liegt fast völlig im Dunkeln. Ähnlich ergeht es den Umlandgemeinden: Sei es aus Sparsamkeit, sei es aus Mangel an Geld (so dass sie von der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft DEI nicht mehr mit Strom versorgt werden) – sie sind dem Halbdunkel überlassen. Noch mehr gilt das für Hunderttausende Haushalte, die ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können.

In den ärmeren Distrikten bieten ganze Straßenzüge ein gespenstisches Bild – gut erkennbar aus der Vogelperspektive: Die Passagiere, die vor einigen Jahren aus den Flugzeugen ein Lichtermeer sahen, können jetzt nur noch eine fahle Landschaft, bespickt mit schwarzen Löchern, erkennen. Die neue urbane Schwärze ist politisch verursacht. Sie gehört zu den Ergebnissen der zwei Memoranden, die zwischen den Regierungen in Athen und den Gläubigern aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) in den Jahren 2010 und 2012 vereinbart wurden. Ihr Zweck: Die griechische Wirtschaft und Gesellschaft im neoliberalen Sinne komplett umzubauen. Präziser: Sie ist die Folge der etwa 425 Anwendungsgesetze, ergänzt um unzählige Gesetzesänderungen, die den Geist der Memoranden in den griechischen Alltag fließen lassen. Einige Beispiele für die ersten Anwendungsgesetze, die nur einen Vorgeschmack auf die noch schärferen Nachfolgegesetze bieten:

Im Bereich der Arbeitsgesetze:

  • Das Gesetz 3845/2010, das u.a. die Verringerung der Einnahmen der Angestellten im öffentlichen Sektor um 3 Prozent, die völlige Abschaffung des dreizehnten und vierzehnten Monatsgehalts sowie die weitere Entlassung von 8 Prozent des Personals vorsieht.
  • Das Gesetz 3863/2010 für den privaten Sektor, das die Verringerung der Überstundenlöhne um 20 Prozent, die drastische Kürzung der Kündigungsfristen sowie die massive Erhöhung der Anzahl von Angestellten, die monatlich entlassen werden dürfen, bedingt.
  • Die weiteren Gesetze bis Ende 2014, die zu noch drastischeren Kürzungen der Gehälter führen, und die die Tarifautonomie fast völlig aus den Angeln heben.

Im Pensionund Versicherungsbereich:

  • Die Gesetze 3845/2010 und 3847/2010 mit der Abschaffung der 13. und 14. Pension.
  • Die Gesetze 3863/2010 und 3865/2010 mit der Entrichtung einer disproportional hohen „Solidaritätssteuer“ für Rentnerinnen und Rentner.

 Im Gesundheits- und Sozialbereich:

  • Das Gesetz 3918/2011 mit einem neuen Versicherungsträger (EOPYY, später PEDI), das mit der Schließung von fünf großen Hospitälern verbunden war. Parallel dazu wurde es Privatärzten erlaubt, ab Mittag die Einrichtungen der öffentlichen Krankenhäuser für ihre Patienten zu nutzen. Die Kranken, die am Vormittag nicht zum Zuge kommen, müssen sich dann gegen hohes Honorar von Privatärzten behandeln lassen.

Im Steuerbereich:

  • Das Gesetz 3845/2010, das die Mehrwertsteuer (von 21 auf 23%) sowie die Steuern für Tabak, Alkoholgetränke und Benzin erhöhte. Dazu kam das sogenannte „Charatsi“ (wörtlich: Fron), eine Sondersteuer für alle mit elektrischem Strom versorgten Räume, sowie, im Jahre 2014, die ENFIA, eine Grundsteuer, die viermal so hoch ist wie der europäische Durchschnitt.

Parallel dazu sind mehrere Gesetze für die Rekapitalisierung der Banken auf Kosten der staatlichen Finanzen beschlossen worden, sowie ein Spezialfonds, in den die Erlöse des privatisierten Staatsvermögens einfließen. Das eingenommene Geld wird in der Folge ausschließlich dazu verwendet, die griechischen Schulden zu bedienen.

Das neue System der Memorandums-Gesetze hat somit die Gestalt einer Spinne, die das Land und seine Leute in ihrem Netz gefangen hält. Die Anwendungsgesetze schaffen eine neue Wirklichkeit, die vom Niedergang der Wirtschaft, einer nie dagewesenen Arbeitslosigkeit sowie der Verelendung großer Teile der Bevölkerung geprägt ist. Jeder Fluchtversuch aus diesem Netz ist für die meisten Betroffenen aussichtlos, zumal sie über keine brauchbaren Ausweichmöglichkeiten verfügen.

Das Elend, das diese Anwendungsgesetze schaffen, ist auf Schritt und Tritt zu sehen – am sichtbarsten dort, wo die Obdachlosen, die Hungrigen und die Kranken nach unmittelbarer Hilfe suchen: Bei den Kirchen, den Gemeindeeinrichtungen, den NGOs oder den Selbsthilfegruppen, die provisorische Quartiere, Essen oder ärztliche Dienste zur Verfügung stellen. „Es sind die Tatorte der Solidarität“, schrieb eine Zeitung.

Tatort Findelhaus auf dem Kumunduru-Platz: Statt nur verlassene Babys zu betreuen, sorgt sich diese gemeindeeigene Einrichtung auch um schlecht ernährte Schüler. „Alles begann im September 2011, als die Lehrer einer Volkschule anriefen, um uns um ein paar Essensportionen zu bitten“, erzählt die Direktorin des Findelhauses, Maria Iliopoulou. „Die Kinder hungern, wir brauchen nicht darüber zu reden“. Aus den ursprünglichen 20 Portionen sind schnell 40 und 50 geworden – und heute, dreieinhalb Jahre danach, übersteigen sie die Zahl von 1400 (in Worten: eintausendvierhundert!) pro Tag.

Das Beispiel hat viele Nachahmer gefunden: Allein die Stiftung „Stavros Niarchos“ hat die Versorgung von 50.000 Schülern übernommen. Das Problem aber bleibt: Täglich berichten die Medien von Ohnmachtsanfällen in den Schulen, verursacht durch Hunger. Von Familien, die nicht in der Lage sind, ihre Kinder halbwegs normal zu ernähren. Von einem „Ernährungsprekariat“ spricht die Professorin für präventive Medizin an der Athener Universität, Athina Linou.

Tatort „Ärzte der Welt“: Am Anfang der Krise hat diese Organisation fast nur Flüchtlinge betreut. Heute sind es vor allem „autochthone“ Griechen, viele von ihnen aus mittleren Schichten, die alles Hab und Gut verloren haben und wegen Arbeitslosigkeit nicht mehr krankenversichert sind und damit keinen kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem mehr haben.

Tatort „Tageszentren“: Zwei von Philanthropen gestiftete Häuser in Athen und Piräus, die tagsüber bis zu 200 obdachlosen Bürgern Aufenthalt und Essen bieten. Mehr als 3000 Menschen fragen jedoch täglich nach – die Philanthropie stößt so schnell an enge Grenzen. Die Regierung von Alexis Tsipras versucht, die Anwendungsgesetze allmählich abzuschaffen. Das ist eine fast unlösbare Aufgabe angesichts des blindwütigen Widerstands der Gläubiger.

Nikos Chilas lebt in Berlin und Athen. Er ist Deutschlandkorrespondent der griechischen Zeitung „To Vima“.

Aus: FaktenCheck:HELLAS \\ Ausgabe 1 \\ April 2015