von Sebastian Gerhardt

Ein Netz kann Hilfe, ja Rettung bedeuten. Bei gefährlichen Aktionen ist es immer besser, ein Netz unter sich zu wissen. Anders fühlt es sich an, wenn man in einem Netz gefangen ist. Die engen finanziellen Verbindungen innerhalb der Eurozone bilden ein dichtes Netz. Aber nur einige werden damit gehalten, ja mitsamt ihren Reichtümern gerettet.

Im Spätherbst 2014 standen im griechischen Parlament Präsidentschaftswahlen an. Im Falle eines Scheiterns des Kandidaten der Regierung waren Neuwahlen sicher und ein Sieg von Syriza möglich. Im Dezember begann die Kapitalflucht. Die Einlagen von privaten Haushalten und Unternehmen bei den griechischen Geschäftsbanken verminderten sich um 4 Milliarden Euro. Im Januar betrug das Minus 12, im Februar nochmals 8 Milliarden. Die Angaben für März lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor; dass sie einen weiteren Rückgang ausweisen, ist sicher. Aber schon bis Februar betrug der Rückgang 24 Milliarden Euro. So heftig sind die Einlagen bei den griechischen Banken nicht einmal während der akuten Krise 2010 oder dem Schuldenschnitt zwei Jahre später gefallen. Eine andere Zahl nur zum Vergleich: Bis Ende 2015 muss die griechische Regierung etwa 25 Milliarden Euro für ihren Schuldendienst aufbringen.

Ein Teil der Gelder, die von den griechischen Bankkonten abgehoben wurden, hat das Land nicht verlassen. Schätzungen sprechen inzwischen von vielleicht 10 oder 12 Milliarden Euro, die bar gehortet werden, weil auch die kleinen Leute in Griechenland ihren Banken nicht so richtig trauen. Der größere Teil allerdings ist ins Ausland überwiesen worden. Denn Geldvermögen sind in Griechenland so ungleich verteilt wie in anderen kapitalistischen Gesellschaften. Und die griechische Elite weiß so gut wie ihre Klassengenossen in anderen Ländern, wie man eine unliebsame Regierung diszipliniert: Austrocknen statt Demonstrieren ist die Protestpolitik der Oberklassen.

Wie 2010 und 2012 schlägt sich diese Auswanderung in den Konten des Europäischen Zentralbankensystems nieder. Und wie damals jammert Hans Werner Sinn vom Münchener Ifo Institut über die „steigenden Salden im Target2-Zahlungssystem“. Die EZB in Frankfurt/Main hat mehr Klassenbewusstsein. Dort weiß man, dass privates Eigentum den Kern kapitalistischer Kontrolle der Wirtschaft bildet. Die Freiheit von grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen ist eines der Mittel, mit dem jede Regierung an diese Wahrheit erinnert werden kann. Daher legt die EZB der Kapitalflucht aus Griechenland keine Steine in den Weg. Sie leistet vielmehr Beihilfe, auch wenn sie dazu finanzielle Risiken eingehen muss, die buchhalterisch schwer zu rechtfertigen sind.

An anderer Stelle ist die EZB weniger flexibel. Kaum lag das griechische Wahlergebnis vor, da schloss sie am 4. Februar griechische Staatsanleihen aus dem Kreis der Sicherheiten aus, mit denen sich Banken im Euroraum Zentralbankgeld besorgen können. Formal war der Beschluss überfällig. Seit 2010 genügen die griechischen Staatsanleihen nicht mehr den offiziellen Vorschriften des Eurosystems. Doch erst mit dem Wahlsieg von Syriza wurden die Sondergenehmigungen aufgehoben, die griechischen Banken dennoch billigen Zugang zu Zentralbankgeld ermöglicht hatten. Es geht dabei nicht allein um die Banken. Der Beschluss zielt auf die neue griechische Regierung, der jede Alternative zu einem Abkommen mit der Eurogruppe verstellt werden soll.

Aus Sicht der EZB  bestand ein Risiko: Da seit 2012 der staatliche Bankenrettungsfonds die Mehrheit an drei der vier griechischen Großbanken hält (gemeinsamer Marktanteil: 90 Prozent), könnte im Dreieck von griechischer Zentralbank, Geschäftsbanken und Finanzministerium die strenge Austerität der Troika umgangen werden. Leider waren diese Ängste übertrieben. Denn jede Ecke jenes griechischen Dreiecks ist auf äußere Unterstützung angewiesen, um weiter funktionieren zu können. Als am 20. Februar eine Einigung zwischen der griechischen Regierung und der Eurogruppe auf der Kippe stand, drohte die EZB nur kurz mit einer Eskalation: das Modell Zypern stand als Drohkulisse im Raum. In dieser Situation stimmte die griechische Regierung einem schwierigen Kompromiss zu. Seitdem lautet ihre Formel nach außen: Schwejk statt Danton. Nach innen: Allende statt Castro. Nach der Sitzung des EZB-Rates am 5. März bestätigte Mario Draghi noch einmal die Entscheidung von Anfang Februar. Alexis Tsipras sprach daraufhin von der EZB als „der Schlinge um unseren Hals“.

Woher kommt aber die Abhängigkeit der griechischen Wirtschaft von der EZB? Wie sehen die tatsächlichen Kräfteverhältnisse aus? Was ist zu tun? Kern des Euro-Systems ist die Dominanz der deutschen Wirtschaft. Und die Grundlage des deutschen Einflusses ist ein Akkumulationsmodell, das mit der effizienten Ausbeutung einer qualifizierten Arbeiterklasse eine weltmarktfähige Industrieproduktion sichert. Die Lohnstückkostenentwicklung ist seit Jahren, wie es die Wirtschaftspresse gern nennt, „moderat“: Die deutsche Einheit und Hartz IV garantieren, dass es so bleibt. Das heißt: Die deutschen Reallöhne stagnieren weitgehend seit der Euro-Einführung, die deutschen Löhne als Anteile an der Fertigung sinken in Folge gesteigerter Produktivität. Gleichzeitig stiegen in den meisten anderen Eurozonen-Länder die Reallöhne bis zur Krise 2008 an. Die Lohnstückkosten sanken dort kaum, auch weil die Produktivität deutlich weniger zunahm als diejenige in Deutschland.

Es waren nicht zuletzt die Niederlagen der Gewerkschaften seit 1990, die den deutschen Unternehmen ihren Platz an der Sonne geschaffen haben. Nach solchen Erfolgen an der ökonomischen Heimatfront konnte sich das deutsche Kapital auf die – friedliche – Eroberung fremder Märkte konzentrieren. Dort führt es vor, was erfolgreicher Imperialismus ist: die höchste Form der freien Konkurrenz. Oder, um es in der moralischen Sprache der neuen Zivilgesellschaft zu formulieren: das Recht des Stärkeren. Dieses Recht verteidigt die EZB, wenn sie auf der „Einhaltung der Regeln“ besteht. Solange die Schwachen schwach bleiben, hilft alle Empörung darüber nichts. Es geht um politische und soziale Organisationen, in denen die Erfahrungen ermüdender Konkurrenz und alltäglichen Klassenkampfes verarbeitet werden können – hier wie in Griechenland.

Sebastian Gerhardt arbeitet in Berlin in der „Topographie des Terrors“ und dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst. Er gehört zur Redaktion von Lunapark21.